Nur die zwei Soldaten und ich. Aufrecht stehend vor dem Tore. Aug in Aug. Lächelnd waren sie mir entgegengekommen. „Guten Morgen, Frau Mader, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Ich hatte mich nicht vorgestellt und sie selber hatten ihre Namen, die noch am Vortag auf ihrer Jacke standen, gegen Nummern eingetauscht. Es war Sonntag, der 9. September, Glockengeläut drang über die Felder. Es war noch kühl von der Nacht, doch gleißender Sonnenschein ließ alles ganz klar und scharf erscheinen. So trug ich Tolstois ‚Rede gegen den Krieg‘, geschrieben zur Internationalen Friedenskonferenz 1909, mit ebenso klarer wie lauter Stimme vor.
Und sie hörten zu:
"So, wie im Märchen Andersens, als beim feierlichen Umzug der König durch die Straßen der Stadt ging, und das ganze Volk entzückt war ob der wunderbaren neuen Kleidung, ein Wort eines Kindes, das
aussprach, was alle wußten, aber niemand sagte, alles geändert hat. Es sagte: „Er hat ja gar nichts an“, und die Suggestion hörte auf, und der König schämte sich, und alle Menschen, die sich
eingeredet hatten, ein wunderschönes neues Kleid am König zu sehen, wurden nun gewahr, daß er nackt sei. Auch wir müssen dasselbe sagen, wir müssen sagen, was alle wissen und nur nicht zu sagen
wagen, wir müssen sagen, daß, wenn die Menschen dem Mord einen noch so veränderten Namen geben, der Mord immer nur Mord bleibt – eine frevelhafte, schmachvolle Tat. Und man braucht nur klar,
bestimmt und laut, wie wir das hier zu tun vermögen, dies zu sagen, und die Menschen werden aufhören zu sehen, was sie zu sehen vermeinten und werden erblicken, was sie in Wirklichkeit sehen. Sie
werden aufhören, im Krieg den Vaterlandsdienst, den Heldenmut, den Kriegsruhm, den Patriotismus zu sehen, und werden sehen, was da ist: die nackte frevelhafte Mordtat. Und wie die Menschen das
sehen, wird dasselbe geschehen, was in dem Märchen geschah: diejenigen, die die Freveltaten üben, werden sich schämen, diejenigen aber, die sich eingeredet haben, daß sie im Mord keine
Frevelhaftigkeit sehen, werden sie jetzt gewahr werden, und werden aufhören Mörder zu sein.“ (L.Tolstoi)
Nach der Rede war es still.
Dann sprachen wir davon, ob ein einzelner, kleiner Moment ein Leben wirklich verändern kann. Auch oder gerade wenn es nur ein Wort oder Bild ist, das sich in einem einnistet und über Jahre, ganz still, seine Wirkung entfaltet.
Geschult charmant wurde das Thema vom Mörder sein auf Anderes gelenkt, doch über Umwege kamen wir vom Umweltschutz bis zum Zusammenhang von Austerität und dem Erfolg der Nazis in den 30er Jahren und auch heute. Es war ein Ringen um die Tiefe der Argumentation, doch in einem Gesamtzusammenhang, der sich nicht leugnen ließ.
Freundlich, ja, das waren sie, die netten Jungs von nebenan, die dort hinter Bäumen und Lächeln versteckt unter der Erde Waffen verbergen, deren Abwurf unzählbaren Tod, unaushaltbaren Schmerz und unfassbares Grauen verursachen, wie wir es nicht einmal ansatzweise in der Lage sind zu ermessen.
"Geliebte Brüder!
Wir haben uns hier versammelt, um gegen den Krieg zu kämpfen. Gegen den Krieg, das will heißen, gegen das, wofür sämtliche Völker der Erde, Millionen und Millionen von Menschen, einigen Dutzenden, manchmal bloß einem einzigen Menschen, nicht nur Milliarden von Rubeln, Talern, Franken, Jens, die einen großen Teil ihrer Arbeit repräsentieren, sondern auch sich selbst, ihr Leben uneingeschränkt zur Verfügung stellen. Und nun wollen wir, ein Dutzend Privatmenschen, die aus verschiedenen Enden der Erde zusammengekommen sind, ohne alle besonderen Privilegien, vor allem ohne jede Macht über jemanden, kämpfen; und wenn wir kämpfen wollen, so hoffen wir auch zu siegen über diese ungeheure Macht nicht etwa nur einer, sondern aller Regierungen, die über Milliarden Geldes und über Armeen von Millionen Menschen verfügen und es nur zu gut wissen, daß die Ausnahmestellung, die sie, d. h. die Menschen, welche die Regierung bilden, einnehmen, einzig und allein auf dem Militär beruht -, auf dem Militär, welches nur dann Sinn und Bedeutung hat, wenn der Krieg besteht, derselbe Krieg, gegen den wir kämpfen wollen und den wir vernichten möchten.
Bei solchen ungleichen Kräften muß ein Kampf als Wahnsinn erscheinen. Macht man sich aber die Bedeutung der Kampfmittel, die sich in den Händen jener, die wir bekämpfen wollen, und die sich in unseren Händen befinden, klar, so werden wir nicht darüber staunen, daß wir uns zum Kampf entschließen, sondern darüber, daß das, was wir bekämpfen wollen, überhaupt noch besteht. In ihren Händen befinden sich Milliarden von Geld, Millionen williger Soldaten, in unsern Händen befindet sich nur ein Mittel, aber das allermächtigste Mittel der Welt – die Wahrheit.
Und deshalb mögen unsere Kräfte noch so gering erscheinen in Vergleich mit den Kräften unserer Gegner, unser Sieg ist ebenso gewiß, wie der Sieg des Lichtes der aufgehenden Sonne über die Finsternis der Nacht.
Unser Sieg ist gewiß, aber nur unter einer Bedingung – unter der Bedingung, daß wir die Wahrheit verkündigen und sie rückhaltlos, ohne alle Umschweife, ohne jede Konzession, ohne jede Milderung heraussagen. Diese Wahrheit aber ist so einfach, so klar, so einleuchtend, so verbindlich nicht bloß für den Christen, sondern für jeden vernünftigen Menschen, daß man sie nur in ihrer ganzen Bedeutung auszusprechen braucht, auf daß die Menschen ihr nicht mehr zuwider handeln können.
Diese Wahrheit ist in ihrer vollen Bedeutung in dem enthalten, was Jahrtausende vor uns in dem Gesetz, das wir das Gesetz Gottes nennen, in zwei Worten gesagt ist: Tötet nicht! Diese Wahrheit besagt, daß der Mensch unter keinen Umständen und unter keinerlei Vorwand einen andern töten kann oder darf.
Diese Wahrheit ist so klar, so allgemein anerkannt, so verpflichtend, daß sie nur klar und bestimmt vor den Menschen aufgestellt zu werden braucht, damit das Übel, das Krieg heißt, vollkommen unmöglich werde. Und deshalb glaube ich, daß wir, die hier zum Weltkongreß versammelt sind, wenn wir diese Wahrheit nicht klar und bestimmt aussprechen, sondern uns an die Regierungen wenden und ihnen allerlei Maßnahmen vorschlagen, um die Übel des Krieges zu verringern und die Kriege seltener zu machen, auf diese Weise jenen Menschen gleichen, die mit dem Torschlüssel in den Händen gegen die Mauern Sturm laufen, die, sie wissen es wohl, ihre Anstrengungen nicht zu stürzen vermag. Wir wissen, daß alle diese Menschen gar kein Verlangen danach haben, ihresgleichen zu töten, zumeist sogar die Veranlassung nicht kennen, auf die hin man sie zur Ausführung dieser Tat zwingt, die ihnen widerlich ist; daß ihnen ihre Lage, in der sie Bedrückung und Zwang erleiden, zur Last fällt; wir wissen, daß die Mordtaten, die von Zeit zu Zeit von diesen Menschen verübt werden, auf Befehl der Regierung geschehen, wissen, daß das Bestehen der Regierung durch die Armeen bedingt wird. Und nun finden wir, die wir die Vernichtung des Krieges anstreben, nichts Zweckmäßigeres zu seiner Aufhebung, als ihnen anzuraten, – ja, wem denn? den Regierungen, die bloß durch das Militär, also durch den Krieg bestehen, – solche Maßregeln zu ergreifen, die den Krieg vernichten sollen, d. h. wir raten den Regierungen, sich selbst zu vernichten.
Die Regierungen werden mit Befriedigung all solche Reden hören, denn sie wissen nicht nur, daß derlei Erörterungen den Krieg nicht vernichten und ihre Macht nicht untergraben, sondern auch, daß die eigentliche Ursache dadurch den Menschen nur noch besser verborgen wird, die Ursache, die sie vor ihnen verbergen müssen, damit Armeen und Kriege und auch sie selbst, die diese Armeen befehligen, fortbestehen können.
„Ja, aber das ist doch Anarchismus: niemals haben die Menschen ohne Regierung und Staat gelebt. Und darum sind Regierungen und Staaten und auch die Heeresmacht, die sie beschützt, unerläßliche Lebensbedingungen der Menschen“, wird man mir entgegnen.
Ganz abgesehen davon, ob ein Leben der christlichen Völker und überhaupt aller Völker ohne Militär und Krieg, von denen Regierungen und Staat beschützt werden, möglich ist oder nicht, zugegeben sogar, die Menschen müßten sich unbedingt zu ihrem Wohle den Institutionen, welche aus Menschen bestehen, die sie nicht kennen und die sie Regierungen heißen, knechtisch unterwerfen, zugegeben, sie müßten diesen Einrichtungen unweigerlich die Produkte ihrer Arbeit überliefern, sie müßten allen Forderungen dieser Einrichtungen unbedingt bis zum Mord an ihren Nächsten Folge leisten, – auch wenn wir das alles zugeben, selbst dann bleibt noch eine Schwierigkeit, die unsere Welt nicht lösen kann. Diese Schwierigkeit besteht in der Unmöglichkeit, den christlichen Glauben, zu dem sich alle Menschen, welche die Regierung repräsentieren, mit besonderem Nachdruck bekennen, mit ihren aus Christen bestehenden Armeen, die sie zum Morde abrichten, zu vereinbaren. Man mag die christliche Lehre noch so sehr entstellen, mag nach Belieben sich um ihre Hauptlehren schweigend herumdrücken, die Grundidee dieser Lehre besteht doch nur in der Liebe zu Gott und den Nächsten. Zu Gott, das heißt zur allerhöchsten Vollkommenheit der Tugend, und zum Nächsten, das heißt zu allen Menschen ohne Unterschied. Deshalb, sollte man glauben, muß man eines von beiden anerkennen: entweder das Christentum mit der Liebe zu Gott und den Nächsten, oder den Staat mit Armeen und Krieg.
Es ist sehr wohl möglich, daß das Christentum seine Zeit überlebt hat und daß die modernen Menschen, wenn sie vor die Wahl gestellt werden, sich für das Christentum und die Liebe oder den Staat und den Mord zu entscheiden, finden werden, das Bestehen des Staates sei dermaßen wichtiger als das Christentum, daß man das Christentum vergessen und nur am Wichtigeren festhalten müsse: am Staat und am Mord.
Alles das mag schon sein, – wenigstens können die Menschen so denken und fühlen. Dann aber muß man es auch so sagen. Man muß sagen, die Menschen unserer Zeit müßten aufhören zu glauben, was die gemeinsame Weisheit der ganzen Menschheit sagt, was das Gesetz, zu dem sie sich bekennen, verkündigt, sie müßten aufhören zu glauben, was mit unvertilgbaren Zügen in das Herz eines jeden gegraben ist, und müßten statt dessen an das glauben, was ihnen – den Mord inbegriffen – die und jene Menschen befehlen, Kaiser und Könige, die durch Zufall oder Erblichkeit zu ihrer Stellung gekommen sind, oder Präsidenten, Reichstagsabgeordnete und Deputierte, die mit Hilfe von allerlei Schlichen gewählt worden sind. Das also muß man dann sagen.
Nun aber kann man das nicht sagen. Nicht bloß dies kann man nicht sagen, sondern weder das eine noch das andere kann man sagen. Sagt man, das Christentum verbietet den Mord, – so wird es kein Militär geben, es wird keinen Staat geben. Sagt man, wir, die Regierung, erkennen die Berechtigung des Mordens an und leugnen das Christentum, – so wird sich niemand einer Regierung unterwerfen wollen, die ihre Macht auf Mord aufbaut. Und noch eins: wenn der Mord im Kriege zulässig ist, muß er erst recht dem Volke gestattet sein, das sein Recht in der Revolution sucht. Und deshalb sind die Regierungen, da sie weder das eine noch das andere sagen können, nur um eines besorgt: ihren Untertanen zu verbergen, daß es notwendig ist, zwischen diesen zwei Wegen die Entscheidung zu treffen.
Darum also haben wir, die wir hier versammelt sind, um dem Übel des Krieges zu steuern, wenn wir unser Ziel wirklich erreichen wollen, nur eines zu tun: wir müssen dieses Entweder-Oder mit voller Bestimmtheit und Klarheit aufstellen, in gleicher Weise vor den Menschen, welche die Regierung ausmachen, wie vor den Massen des Volkes, die das Militär bilden. Und dies müssen wir in der Art tun, daß wir nicht nur klar und offen die allen Menschen bekannte Wahrheit wiederholen: Ein Mensch darf den andern nicht töten! sondern noch dazu ausdrücklich erklären, daß keinerlei Erörterungen die Menschen der christlichen Welt von der Verpflichtung, die diese Wahrheit in sich schließt, befreien können.
Deshalb möchte ich unserer Versammlung den Vorschlag machen, einen Aufruf an die Menschen sämtlicher und besonders der christlichen Völker zu verfassen und zu veröffentlichen, worin wir klar und gerade heraus sagen, was zwar alle wissen, was aber niemand oder so gut wie niemand sagt: nämlich, daß der Krieg nicht, wie das jetzt die Menschen vorgeben, irgendeine besondere wackere und lobenswerte Sache sei, sondern daß er, wie jeder Mord, eine abscheuliche und frevelhafte Handlung ist, und zwar nicht nur für die, welche die militärische Laufbahn aus freien Stücken wählen, sondern auch für die alle, die sich ihr aus Furcht vor Strafe oder um eigennütziger Interessen willen widmen.
Im Hinblick auf die Personen, die die militärische Tätigkeit freiwillig wählen, möchte ich vorschlagen, daß wir in diesem Aufruf klar und präzis zum Ausdruck bringen, daß diese Tätigkeit, ungeachtet aller Feierlichkeit, allen Glanzes und der allgemeinen Billigung, die ihr zuteil wird, verbrecherisch und schändlich ist, und zwar umsomehr, je höher die Stellung ist, die der Mensch im Militärdienst einnimmt. Ebenso möchte ich in bezug auf die Menschen aus dem Volke, die durch Androhung von Strafen oder durch Aussicht auf Gewinn zum Militär herangezogen werden, vorschlagen, daß wir klar und bestimmt auf den großen Irrtum hinweisen, den sie gegen ihren Glauben, wie gegen die Sittlichkeit und den gesunden Menschenverstand dadurch begehen, daß sie darein einwilligen, in die Armee zu treten: Gegen den Glauben dadurch, daß sie in die Reihen von Mördern treten und das von ihnen anerkannte Gesetz Gottes verletzen; gegen die Sittlichkeit dadurch, daß sie aus Furcht, von Seiten der Behörden bestraft zu werden oder um eigennütziger Interessen willen bereit sind, zu tun, was sie in ihrem Innern für schlecht erkennen; und gegen den gesunden Menschenverstand dadurch, daß sie, wenn sie in das Heer treten, im Kriegsfall von denselben, wenn nicht noch schwereren Leiden bedroht sind, als die sind, die ihnen für die Dienstweigerung drohen; gegen den gesunden Menschenverstand vor allem aber schon darum, weil sie demselben Schlag Menschen sich beigesellen, der sie ihrer Freiheit beraubt und sie zum Militärdienste zwingt.
Die Menschheit im allgemeinen und unsere christliche Menschheit im besonderen ist zu einem so schroffen Widerspruch zwischen ihren sittlichen Forderungen und der bestehenden Gesellschaftsordnung gelangt, daß unbedingt eines geändert werden muß, nicht das, was nicht geändert werden kann: die sittlichen Forderungen des Gewissens sondern das, was wohl geändert werden kann: die Gesellschaftsordnung. Diese Änderung, die der innere Widerspruch gebietet, der in der Vorbereitung zum Morde besonders scharf zu Tage tritt, wird von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag immer dringender. Die Spannung, die diese bevorstehende Änderung seit langem erzeugt, hat heute schon einen solchen Grad erlangt, daß es, wie zum Übergang eines flüssigen Körpers in einen festen manchmal ein geringer Stoß genügt, ebenso auch zum Übergang aus jenem grausamen und unvernünftigen Leben der Menschen mit seiner Absonderung, seinen Rüstungen und Armeen, zu einem vernünftigen, den Forderungen der Erkenntnis der jetzigen Menschheit entsprechenden Leben möglicherweise nur einer geringen Anstrengung, vielleicht nur eines Wortes bedarf. Jede solche Anstrengung, jedes solche Wort kann zu jenem Stoß der abgekühlten Flüssigkeit werden, der plötzlich die Flüssigkeit in einen festen Körper verwandelt. Warum sollte unsere jetzige Versammlung nicht diese Anstrengung sein? So, wie im Märchen Andersens, als beim feierlichen Umzüge der König durch die Straßen der Stadt ging, und das ganze Volk entzückt war ob der wunderbaren neuen Kleidung, ein Wort eines Kindes, das aussprach, was alle wußten, aber niemand sagte, alles geändert hat. Es sagte: „Er hat ja gar nichts an“, und die Suggestion hörte auf, und der König schämte sich, und alle Menschen, die sich eingeredet hatten, ein wunderschönes neues Kleid am König zu sehen, wurden nun gewahr, daß er nackt sei. Auch wir müssen dasselbe sagen, wir müssen sagen, was alle wissen und nur nicht zu sagen wagen, wir müssen sagen, daß, wenn die Menschen dem Mord einen noch so veränderten Namen geben, der Mord immer nur Mord bleibt – eine frevelhafte, schmachvolle Tat. Und man braucht nur klar, bestimmt und laut, wie wir das hier zu tun vermögen, dies zu sagen, und die Menschen werden aufhören zu sehen, was sie zu sehen vermeinten und werden erblicken, was sie in Wirklichkeit sehen. Sie werden aufhören, im Krieg den Vaterlandsdienst, den Heldenmut, den Kriegsruhm, den Patriotismus zu sehen, und werden sehen, was da ist: die nackte frevelhafte Mordtat. Und wie die Menschen das sehen, wird dasselbe geschehen, was in dem Märchen geschah: diejenigen, die die Freveltaten üben, werden sich schämen, diejenigen aber, die sich eingeredet haben, daß sie im Mord keine Frevelhaftigkeit sehen, werden sie jetzt gewahr werden, und werden aufhören. Mörder zu sein.
Wie aber sollen sich die Völker gegen die Feinde wehren, wie soll die innere Ordnung aufrecht erhalten werden, wie können die Völker ohne Militär bestehen?
Welche Form das Leben der Menschen annehmen wird, wenn sie den Mord unterlassen, wissen wir nicht und können es nicht wissen, eines aber ist sicher: daß es den Menschen, die mit Vernunft und Gewissen begabt sind, natürlicher ist, ihr Leben von Vernunft und Gewissen lenken zu lassen, als sich knechtisch denen zu unterwerfen, die das gegenseitige Töten anordnen. Und sicher ist darum auch, daß die Form der gesellschaftlichen Ordnung, die das Leben der Menschen annehmen wird, wenn sie sich bei ihren Handlungen nicht von der Gewalt, die auf Todesdrohungen gegründet ist, sondern von der Vernunft und vom Wissen leiten lassen, jedenfalls nicht schlimmer wird, als das Leben, das sie jetzt führen.
Das ist alles, was ich sagen wollte. Es wäre mir sehr leid, wenn ich jemanden beleidigt, gekränkt oder böse Gefühle in ihm erweckt hätte. Doch wäre es für mich, einen 80jährigen Greis, der jeden Augenblick des Todes gewärtig ist, eine Schande, nicht ganz offen die Wahrheit zu sagen, wie ich sie verstehe, die Wahrheit, die nach meiner festen Überzeugung allein die Menschheit von den unseligen Drangsalen zu erretten vermag, die der Krieg hervorbringt und unter denen sie leidet.“
Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi, 1909