Bernd Hahnfeld - Vorstandsmitglied IALANA Deutschland e.V. - 23.11.2021

Nukleare Teilhabe

 

 

Summary: Entsprechend einer jahrzehntelangen Tradition hält Deutschland weiterhin Trägersysteme für die im Land stationierten US-amerikanischen Atombomben bereit. Im Einsatzfall werden die Atombomben mittels Tornado-Jagdbomber von Bundeswehrsoldaten transportiert und abgeworfen. Diese nukleare Teilhabe ist ein Teil des strategischen Konzeptes der NATO, das ohne Rechtsgrundlage von den Mitgliedsländern abgesprochen worden ist. Der Einsatz der Atombomben und seine Androhung sind durch das humanitäre Völkerrecht und das Menschenrecht auf Leben verboten. Zudem verstößt der Einsatz gegen den Nichtverbreitungsvertrag (NPT), der dem Nicht-Atomwaffenstaat Deutschland jede Mitverfügung über Atomwaffen verbietet. Durch die Entwicklung atomarer Trident-Raketen mit kleiner Sprengkraft für die Ohio-Klasse US-amerikanischer Atom-U-Boote haben die in Deutschland stationierten taktischen Atombomben ihre militärische Bedeutung ohnehin verloren.

 

1) Was bedeutet nukleare Teilhabe?

 

Die nukleare Teilhabe wurde von den teilnehmenden Staaten im Rahmen des Strategischen Konzeptes der NATO vereinbart. Dabei werden US-amerikanische Atomwaffen in den betreffenden Staaten gelagert, bewacht, gewartet und im Einsatzfall freigegeben. Die derzeit teilnehmenden Staaten Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und die Türkei1 stellen die Trägersysteme zur Verfügung und führen den Einsatz durch. Die Bundeswehr hat der NATO die Bereitstellung von 46 nuklearfähigen Trägerflugzeugen zugesagt. Sie hat in Büchel (Eifel) 44 Tornados des Jagdfliegergeschwaders 33 stationiert. Deutsche Soldaten werden dort im Einsatz von Atomwaffen ausgebildet.2

 

Die Atomwaffen in Europa sind vorrangig für Aufgaben der NATO vorgesehen, die auch den Einsatzbefehl erteilt. Eingesetzt werden dürfen und können sie nur, wenn der US-Präsident sie freigegeben hat und der Freigabecode auf einem besonderen US-Befehlsweg eingegangen ist. Die USA behalten sich zudem das Recht vor, in Europa gelagerte Atomwaffen auch zur Unterstützung des für den Nahen und Mittleren Osten zuständigen, regionalen Oberkommandos CENTCOM einzuplanen.3

 

Soll es zu einem Einsatz der us-amerikanischen, in Deutschland und anderen NATO-Staaten gelagerten Bomben kommen, müsste das jeweilige Stationierungsland dem Einsatz durch eigene Flugzeuge zustimmen. Die allgemeine Erwartung scheint zu sein, dass eine solche Einsatzentscheidung nach Konsultation mit allen NATO-Mitgliedern getroffen wird und der Nordatlantikrat dabei eine zentrale Rolle hat. Eine notwendige Voraussetzung ist die Beratung mit allen Verbündeten jedoch nicht.4

 

Im Falle eines NATO-Einsatzes übernehmen in Büchel5 Bundeswehrsoldaten von der US-Armee nach der Freigabe durch den US-Präsidenten die stationierten B16-Atombomben, fliegen sie zu den Zielorten und werfen sie dort ab.

 

2) Geschichte der nuklearen Teilhabe Deutschlands

 

Die USA unterstellten ab Juli 1953 als Schlüssel-Element der Vorwärtsverteidigung taktische Atomwaffen der NATO. Die ersten Atomwaffen kamen im September 1954 in Europa (Großbritannien) an. Es folgten Verlegungen nach Deutschland zwischen März und Mai 1955, Italien (1957), in die Türkei (1959), in die Niederlande (1960), nach Griechenland (1960) und zuletzt nach Belgien (1963).6 1971 verfügte die NATO in Europa über 7.300 Atomwaffen, von denen etwa die Hälfte in der BRD stationiert waren.

 

Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer stimmte der Stationierung der US-Atomwaffen in der BRD ausdrücklich zu.7 Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr von der Existenz atomarer Waffen auf deutschem Boden erst zwei Jahre später am 15. März 1957 durch die US-Streitkräfte. Bereits fünf Tage später kündigte NATO-Oberbefehlshaber General Norstadt überraschend an, dass die atomaren Waffen der USA im Kriegsfall auch den Verbündeten, zum Beispiel der Bundeswehr, übergeben würden. Kurz darauf bekundete Bundeskanzler Adenauer sein Interesse, die Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen auszustatten.8 Schon nach zehn Jahren verfügte die Bundeswehr über eine Vielzahl nuklearer Trägersysteme. Nuklearwaffen bestimmten das militärische Denken. Die Bundesregierung verzichtete beim Ankauf des Jagdbombers Starfighter sogar darauf, bei diesem eine konventionelle Bewaffnung vorzusehen.9

 

Die zunächst geltende NATO-Strategie der „massiven Vergeltung“ wurde 1968 durch die Strategie der „flexiblen Erwiderung“ abgelöst. Die NATO hielt sich jedoch explizit die Option offen, als erste Nuklearwaffen einzusetzen.10

 

Das Ende der Ost-West-Konfrontation mit dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Warschauer Vertragsorganisation veränderten die sicherheitspolitischen Voraussetzungen in Europa dramatisch. Tausende taktischer Atomwaffen wurden im Rahmen der gegenseitig einseitigen Abrüstungsverpflichtungen der Präsidenten Bush, Gorbatschow und Jelzin 1991/92 abgezogen. Die Zahl der in Europa gelagerten Atomwaffen der USA sank bis Juli 1992 auf rund 700 und Mitte der neunziger Jahre auf etwa 480. Geplante Modernisierungsvorhaben für taktische Atomwaffentypen in Europa wurden schrittweise gestoppt.11

 

In dem 1991/92 beschlossenen neuen strategischen Konzept der NATO wurden als "höchste Garantie der Sicherheit des Bündnisses" weiter die strategischen Nuklearwaffen auf U-Booten erachtet, welche die USA und Großbritannien der NATO im Konfliktfall zuweisen würden. Die in Europa stationierten substrategischen Nuklearwaffen sollen als ein Bindeglied sicherstellen, dass sich die Europäer breit an den Risiken, Rollen und Aufgaben sowie den Verantwortlichkeiten der NATO-Nuklearstrategie beteiligen. "Angemessene Kräfte“ sollen in Europa bleiben.12

 

Das am 19./20. November 2010 von den NATO-Bündnispartnern verabschiedete neue Strategische Konzept legt sich erstmalig auf das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt fest, bestätigt aber zugleich das Prinzip der nuklearen Abschreckung bis zur vollständigen Vernichtung aller Nuklearwaffen in der Welt.13

 

Die NATO begründet 2018 das Konzept der nuklearen Teilhabe wie folgt: „Das nukleare Abschreckungsdispositiv der NATO beruht auch auf vorwärtsdislozierten Kernwaffen der USA in Europa und auf Fähigkeiten und Infrastruktur, die von den betreffenden Verbündeten bereitgestellt werden. Die nationalen Beiträge an Flugzeugen mit dualer Einsatzfähigkeit für den NATO-Auftrag der nuklearen Abschreckung bleiben bei dieser Anstrengung von zentraler Bedeutung. Unterstützende Beiträge der betreffenden Verbündeten zur Gewährleistung der größtmöglichen Teilhabe an der vereinbarten Lastenteilung im Nuklearbereich stärken diesen Auftrag zusätzlich.“14

 

Im Juli 2007 meldete der Spiegel, dass die US-Armee die in der Airbase Ramstein stationierten 130 Atomwaffen abgezogen habe und Ramstein von der Liste der Stationierungsorte gestrichen worden sei.15 Deutschland trägt zur Nuklearen Teilhabe seitdem nur durch das in Büchel stationierte Jagdfliegergeschwader 33 der Bundeswehr bei. Dort sollen unter Bewachung der US-Armee 10 – 20 Atombomben des Typs B 61 stationiert sein. Geplant ist, die Atomwaffen und die Flugzeuge vom Juni 2022 bis Februar 2026 wegen umfangreicher Baumaßnahmen in Büchel vorrübergehend nach Nörvenich (NRW) zu verlegen.16

 

Die Streitkräfte der USA wollen die B61-Bomben bis spätestens 2025 einsatzfähig halten. Zu diesem Zweck werden im Haushalt der US-Regierung 10 Mrd. Dollar bereitgestellt, um die B61-Bomben zu modernisieren. Diese erhalten variable Sprengköpfe (0,3/ 1,5/ 10/ 50 Kilotonnen) und Lenksysteme mit Satelliten-Navigation, die sie erheblich treffsicherer machen.17

 

    Wie wird nukleare Teilhabe in Deutschland derzeit praktiziert?

 

Obwohl laut einer 2021 durchgeführten repräsentativen Forsa-Umfrage 62 % der Bundesbürger sich eine engere Kooperation zwischen Europäischer Union (EU) und Russland wünschen und sich für intensivere Beziehungen zwischen der EU und Russland aussprechen18, verschlechtern sich die internationalen Beziehungen zwischen den NATO-Mitgliedstaaten und Russland zunehmend. Dazu tragen öffentliche Äußerungen deutscher Politiker und die Berichterstattung der deutschen Leitmedien entscheidend bei.

 

Bei den jährlich stattfindenden Herbstmanövern der NATO „Steadfast Noon“ üben Bundeswehrpiloten mit den in Büchel stationierten Bundeswehr-Tornados den Atombombenabwurf über russischen Zielen. Außerdem übt die Bundeswehr, wie sie den Stationierungsort Büchel gegen Angriffe verteidigen kann. Dafür vorgesehen sind die Patriot Abwehrraketen des Flugabwehrraketengeschwaders 1 der Bundeswehr.19 Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kamp-Karrenbauer erklärt im Oktober 2021 öffentlich, dass Deutschland bereit sein muss, Atomwaffen gegen Russland einzusetzen.20 Die NATO plant, mit Atombomben bestückte Bundeswehr-Tornados bei einer bestimmten Konfliktschwelle an die Ostflanke (der NATO) zu verlegen.21

 

Derzeit spricht alles dafür, dass die Bundesregierung von der langfristigen Nutzung des Atomwaffenstandortes ausgeht: Die Bundesregierung plant die Anschaffung neuer Trägerflugzeuge als Ersatz für die 30 bis 40 Jahre alten Tornados.22 Die in Deutschland stationierten B61-Atombomben und der Atomwaffenstandort Büchel werden modernisiert, dieser unter anderem durch die Sanierung der Flugbetriebsflächen und der Flugbetriebseinrichtungen.23

 

4) Auf welcher Rechtsgrundlage beruht die deutsche nukleare Teilhabe?

 

Die Bundesregierung hat der nuklearen Teilhabe und der Stationierung von Atomwaffen in Büchel ausdrücklich zugestimmt und hält diese Zustimmung auch aufrecht. Eine gesetzliche Grundlage dafür fehlt.

 

Einen Gesetzesentwurf zur rechtlichen Begründung der nuklearen Teilhabe hat die Bundesregierung niemals im Bundestag eingebracht. Das ist insbesondere nicht durch den Antrag der damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und DP im Bundestag geschehen. Dieser vom Bundestag mit der Regierungsmehrheit am 25. März 1958 angenommene Antrag hat folgenden Wortlaut:

 

„1. Der Bundestag ersucht die Bundesregierung, auch weiterhin getreu ihrer grundsätzlichen Auffassung bei allen internationalen Verhandlungen und Konferenzen, an denen sie teilnimmt oder auf die sie Einfluß hat,

 

a) für eine allgemeine kontrollierte Abrüstung sowohl atomarer wie konventioneller Waffen einzutreten,

 

b) die Bereitschaft zu bekräftigen, daß die Bundesrepublik jedes derartige Abrüstungsabkommen annehmen wird, um dadurch zur Entspannung und zur Lösung der internationalen Probleme einschließlich der deutschen Frage beizutragen.

 

2. Solange der Kommunismus seine weltrevolutionären Ziele weiterverfolgt, die er noch im November 1957 auf der Tagung der Kommunistischen und Arbeiter-Parteien der sozialistischen Länder in Moskau erneut bekräftigt hat, können Friede und Freiheit nur durch eine gemeinsame Verteidigungsanstrengung der freien Welt gesichert werden. Der Bundestag stellt fest, daß die Bundeswehr lediglich der Erhaltung des Friedens und der Verteidigung dient. Darum fordert er die Bundesregierung auf, bis zum Zustandekommen eines allgemeinen Abrüstungsabkommens den Aufbau der deutschen Landesverteidigung im Rahmen der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft fortzusetzen. In Übereinstimmung mit den Erfordernissen dieses Verteidigungssystems und angesichts der Aufrüstung des möglichen Gegners müssen die Streitkräfte der Bundesrepublik mit den modernsten Waffen so ausgerüstet werden, daß sie den von der Bundesrepublik übernommenen Verpflichtungen im Rahmen der NATO zu genügen vermögen und den notwendigen Beitrag zur Sicherung des Friedens wirksam leisten können.

 

3. Das ganze deutsche Volk diesseits und jenseits der Zonengrenze erwartet, daß auf der kommenden Gipfelkonferenz die deutsche Frage erörtert und einer Lösung nähergebracht wird. Der Bundestag ersucht die Bundesregierung, sich dafür mit allen Kräften einzusetzen.

 

4. Der Bundestag wiederholt seine Überzeugung, daß freie Wahlen die Grundlage der deutschen Wiedervereinigung bilden müssen. Er lehnt mit Entschiedenheit ab

 

a) den Abschluß eines Friedensvertrages für zwei deutsche Staaten,

 

b) Verhandlungen mit den Vertretern des derzeitigen Zonen-Regimes,

 

c) den Abschluß einer Konföderation mit diesem Regime.

 

5. Der Bundestag bekräftigt seine Überzeugung, daß die Wiedervereinigung Deutschlands in Verbindung mit einer europäischen Sicherheitsordnung die dringlichste Aufgabe der deutschen Politik ist.“24

 

Zahlreiche weitere Anträge der Fraktionen zum Verzicht auf die atomare Aufrüstung der Bundeswehr, auf die generelle Ächtung von Atomwaffen und auf Einrichtung von atomwaffenfreien Zonen sind bis auf einen unwesentlichen Punkt entweder abgelehnt oder an Bundestags-Ausschüsse überwiesen worden.

 

Der Wortlaut des gefassten Beschlusses ist auslegungsbedürftig. Die entscheidende Stelle spricht von der „Ausrüstung der Bundeswehr mit modernsten Waffen.“ Atomwaffen werden ebenso wenig benannt wie atomare Trägersysteme. Das Wort Atomwaffen taucht nur einmal und im Zusammenhang mit Abrüstungsbemühungen auf. Die Tatsache, dass Atomwaffen nicht bei der beabsichtigten Ausrüstung der Bundeswehr benannt werden, lässt den Schluss zu, dass mit „modernsten Waffen“ diese nicht gemeint waren. Das Protokoll der Bundestagsdebatte ergibt keine Klärung, obwohl eigene Atomwaffen für die Bundeswehr von dem Bundeskanzler Adenauer und von den Regierungsparteien erkennbar gewünscht waren. In der Bundestagsdebatte hat Kiesinger (CDU/CSU) für die Regierung klargestellt: „Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erklärung von Herrn Kollegen Bucher nötigt uns, zu erklären, daß unter modernsten Waffen nicht Wasserstoffbomben verstanden werden.“25 Das spricht aber noch nicht dafür, dass mit dem Beschluss taktische Atomwaffen gemeint waren.26 Die Anschaffung lediglich von Atomwaffenträgern lässt sich aus dem Wortlaut des Beschlusses nicht herleiten.

 

Keiner der am 25. März 1958 im Bundestag debattierten Anträge befasst sich mit der Anschaffung von Atomwaffenträgern für die Bundeswehr. In der hitzigen viertägigen Debatte des Bundestags ging es vor allem um die Ausrüstung der Bundeswehr mit eigenen Atomwaffen.

 

Für die Frage der rechtlichen Grundlage der Nuklearen Teilhabe kommt es letztlich auf die Auslegung des Bundestagsbeschlusses vom 25. März 1958 nicht an, weil dieser niemals zu einem verpflichtenden förmlichen Gesetz geworden ist. Denn der Bundestag fordert in dem Beschluss vom 25. März 1958 nur ein bestimmtes Regierungshandeln. Zu einem bestimmten Handeln verpflichtet der Bundestag die Bundesregierung nicht. Damit ist der Beschluss vom 25. März 1958 vergleichbar dem Beschluss des Bundestags vom 26. März 2010, mit dem der Bundestag den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen auf der mit dem Titel „Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen“ mit breiter Mehrheit gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen hat. Mit diesem Beschluss hat der Bundestag die Bundesregierung u.a. aufgefordert, „sich auch bei der Ausarbeitung eines neuen strategischen Konzepts der NATO im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.“27

 

Die Bundesregierung hat der nuklearen Teilhabe in Ausübung ihrer verteidigungspolitischen Entscheidungsspielräume zugestimmt und diese Zustimmung aufrechterhalten ohne der Zustimmung eine rechtliche Grundlage zu geben. Die Wesentlichkeitsdoktrin des Bundesverfassungsgerichts28 hat jedoch ein förmliches Gesetzgebungsverfahren zwingend erfordert. Diese Doktrin wurde vom Bundesverfassungsgericht entwickelt und besagt, dass der Gesetzgeber staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen durch ein förmliches Gesetz legitimieren muss. Grundlage der Theorie ist die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes sowie der im Demokratieprinzip wurzelnde Parlamentsvorbehalt, wonach die Verwaltung nur tätig werden darf, wenn sie dazu durch ein formelles Gesetz ermächtigt worden ist. Alles, was für die Ausübung der Grundrechte wesentlich ist, unterliegt dem Vorbehalt des Gesetzes.29

 

Diese rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für das erforderliche Gesetzgebungsverfahren hätten bei der Zustimmung zur nuklearen Teilhabe durch die Bundesregierung erfüllt werden müssen. Denn die Stationierung und der eventuelle Bundeswehr-Einsatz der Atomwaffen in Büchel waren und sind für die gesamte Region und das Grundrecht auf Leben und Gesundheit der dort lebenden Bevölkerung von existentieller Bedeutung.30

 

Die Bundesregierung hat auch keinen völkerrechtlichen Vertrag über die Beteiligung an der atomaren Verteidigung der NATO abgeschlossen.31 Die Nuklearstrategie ergibt sich nicht zwangsläufig aus dem Beitritt zum NATO-Vertrag. Denn dieser sieht keine bestimmten Verteidigungswaffen oder Strategien vor. Die Begriffe „Atomwaffen“ oder „Nuklear-Waffen“ werden in ihm nicht verwendet.

 

Die nukleare Teilhabe ist lediglich ein Teil des Strategischen Konzeptes der NATO, das zwischen den Bündnis-Staaten abgesprochen worden ist. Es ist laut Urteil des BVerfG vom 22.11.2001 weder ein förmlicher noch ein konkludent zustande gekommener Vertrag32.

 

5) Rechtswidrigkeit der nuklearen Teilhabe

 

5.1. In Büchel (Eifel) sind Atombomben einsatzbereit stationiert, deren Einsatz nach dem humanitären Völkerrecht verboten ist.

 

Das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte (Protokoll I) vom 8.6.197733 stellt in Art. 25 unmissverständlich fest: „In einem bewaffneten Konflikt haben die am Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegsführung.“ Sie dürfen sich nur mit Waffen verteidigen, die das humanitäre Völkerrecht nicht verbietet. Der Einsatz von Atomwaffen und seine Androhung sind nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH)34 durch die Genfer Abkommen verboten, weil

 

    ihre Wirkung nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheidet,

 

    ihre radioaktive Strahlung unnötige Qualen verursacht,

 

    sie Schäden an der Umwelt und den Lebensgrundlagen der Menschen für zukünftige Generationen verursachen und

 

    sie durch den grenzüberschreitenden Fall-Out neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

 

Beim Einsatz der in Büchel stationierten Atomwaffen können diese Wirkungen nicht vermieden werden. Diese Waffen treffen unterschiedslos alle Lebewesen im Zielgebiet, verstrahlen Überlebende und die Umwelt radioaktiv und senden durch Winde den Fall-Out in die Nachbarländer.

 

Das völkerrechtliche Einsatzverbot bindet nicht nur die Vertragsstaaten, sondern gewohnheitsrechtlich alle Staaten der Welt.35 Es gilt für alle Notwehrfälle, auf die sich die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten berufen, also auch in dem von ihnen in Anspruch genommenen Fall „einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stehen würde“, den der IGH nicht entscheiden konnte. In dem Gutachtenverfahren hatten sich die Atomwaffenstaaten darauf berufen, dass sie neue, kleine, angeblich saubere Atomwaffen entwickeln. Das ist jedoch nicht geschehen und auch nicht denkbar, denn wenn solche Waffen keine radioaktive Strahlung freisetzen, sind es keine Atomwaffen.

 

Die IGH-Richter haben nur im Hinblick auf die seinerzeit technisch nicht auszuschließenden angeblich „sauberen“ kleinen taktischen Atomwaffen dargelegt, „nicht genügend Grundlagen zu haben, die sie in die Lage versetzen, mit Sicherheit zu entscheiden, dass die Anwendung von Atomwaffen unter allen Umständen in Widerspruch steht zu den Prinzipien und Regeln des für den bewaffneten Konflikt verbindlichen Rechts.“36

 

In seinem Gutachten stellt der IGH jedoch klar, dass selbst im Falle einer extremen Notwehrsituation, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiele steht, ein etwaiger Atomwaffeneinsatz allenfalls dann völkerrechtsgemäß sein könnte, wenn er die genannten Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts erfüllt. Der IGH hat erklärt, dass das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta durch das humanitäre Völkerrecht eingeschränkt ist, „welche Mittel der Gewalt auch eingesetzt werden.“37 Eine abweichende Regel für extreme Notwehrlagen, in denen das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ist dem Völkerrecht nicht zu entnehmen und vom IGH auch nicht dargelegt worden.

 

Der Präsident des IGH M. Bedjaoui hat in seiner dem Gutachten angefügten Erklärung ausgeführt: „Ich werde nie genug hervorheben können, dass die Unfähigkeit des Gerichtshofs, über die Feststellung hinauszugehen, zu der er gekommen ist, keinesfalls so ausgedeutet werden darf, als hätte er damit eine Tür für die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Androhung durch oder des Einsatzes von Atomwaffen offengehalten.“38

 

Dieses Rechtsgutachten war von der UN-Generalversammlung auf der Grundlage von Art. 96 UN-Charta beim IGH angefordert worden. Die UN-Generalversammlung hatte sich dabei – gegen den erbitterten Widerstand der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten - die Argumente der weltweiten Initiativen von Bürgerbewegungen und Nichtregierungsorganisationen zu eigen gemacht, darunter der IPPNW, der IALANA und des Internationalen Friedensbüros (IPB), die dieses „World-Court-Project“ initiiert hatten.

 

Dem IGH folgend hat das Bundesverteidigungsministerium in der Druckschrift „Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten“, Ausgaben 2006 und 2008, den Soldaten und Soldatinnen ausdrücklich verboten in bewaffneten Konflikten Atomwaffen einzusetzen.39

 

Die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts gehören laut IGH zum internationalen Gewohnheitsrecht.40 Sie sind nach Art. 38 IGH-Statut geltendes Völkerrecht und in Deutschland als allgemeine Regeln des Völkerrechts nach Art. 25 GG vorrangiger Bestandteil des Bundesrechts.

 

5.2 Der Einsatz von Atomwaffen und dessen Androhung verletzen das Menschenrecht auf Leben nach Art. 6 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt).41 Dieser ist 1976 in Kraft getreten und auch in bewaffneten Konflikten anzuwenden. Art. 6 wörtlich: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“ Deutschland ist diesem Pakt beigetreten. Die nicht zu rechtfertigende Tötung mit völkerrechtlich verbotenen Kriegswaffen würde dieses Menschenrecht missachten.

 

Der UN-Menschenrechtsausschuss hat im Oktober 2018 in seiner Kommentierung 65 zu Art. 6 des UN-Zivilpaktes dargelegt, dass Vertragsstaaten, die an der Stationierung, dem Einsatz, dem Verkauf oder dem Kauf vorhandener Waffen und an der Erforschung, Entwicklung, dem Erwerb oder der Einführung von Waffen und Mitteln oder Methoden der Kriegsführung beteiligt/befasst sind, stets deren Auswirkungen auf das Recht auf Leben berücksichtigen müssen. Er konkretisiert in der Kommentierung 66: „Die Androhung oder der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von Kernwaffen, die wahllos wirken und geeignet sind, menschliches Leben in katastrophalem Ausmaß zu vernichten, ist mit der Achtung des Rechts auf Leben unvereinbar und kann ein Verbrechen nach dem Völkerrecht darstellen.“42

 

5.3. Im NATO-Einsatzfall erhalten die Bundeswehrsoldaten in Büchel nach der Freigabe durch den US-Präsidenten von Soldaten der US-Armee die dort stationierten B61-Atombomben, hängen sie unter die Tornadoflugzeuge des Jagdfliegergeschwaders 33, fliegen sie zu den Einsatzorten und werfen die Atombomben dort ab. Damit verstoßen sowohl die USA als auch Deutschland gegen den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 (NPT).43

 

Als Vertragspartei des NPT ist der Nicht-Atomwaffenstaat Deutschland nach Art. 2 NPT verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden unmittelbar oder mittelbar anzunehmen“. Entsprechend ist die USA nach Art. 1 NPT verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben“. Eine Ausnahme für die nukleare Teilhabe ist im NPT nicht vorgesehen. Die Bundesregierung beruft sich dennoch darauf, dass sie bei der Unterzeichnung und bei der Ratifizierung des NPT jeweils einen förmlichen Vorbehalt erklärt hat, durch den sie sich im Kriegsfall das Recht auf die Verfügungsgewalt über Atomwaffen vorbehalten hat.

 

Die erklärten Vorbehalte der Bundesregierung bestätigen das nicht. Sie betonen nur, dass Deutschland weiterhin dem kollektiven Sicherheitssystem der NATO verpflichtet bleibt. Die Erklärungen bezeichnen die Waffen nicht, mit denen nach den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO der Schutz der Bundesrepublik gewährleistet werden sollte. Obwohl das besondere Interesse der Bundesrepublik der Fortexistenz der nuklearen Teilhabe und der Sicherung der Europäischen Option galt,44 sind Atomwaffen in den Erklärungen nicht ausdrücklich genannt. Der Wortlaut der Erklärungen45 schließt nicht aus, dass die NATO die Bundesrepublik ausschließlich mit konventionellen Waffensystemen verteidigt. Aus den Erklärungen ergibt sich auch nicht, dass die damals bereits praktizierte nukleare Teilhabe nach dem Inkrafttreten des NPT fortgesetzt werden sollte.

 

Bei der Auslegung der Vorbehalte nach Art. 31 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK)46, ist unabhängig von dem, was die Parteien bei Abschluss des Vertrages subjektiv mit den verwendeten Formulierungen meinten, der Wortlaut maßgeblich.47 Zudem sind nach Art. 19 lit c WVK nur Vorbehalte, die mit Ziel und Zweck des Vertrages nicht unvereinbar sind, zulässig. Mit der Übergabe der Atomwaffen würde der NPT praktisch ausgehebelt, weil dessen Sinn und Zweck darin besteht, dass Atomwaffenstaaten keine Atomwaffen an Nicht-Atomwaffenstaaten übergeben und diese keine Verfügungsgewalt über Atomwaffen ausüben dürfen. Weitere Regelungen sind in Art 1 und 2 NPT nicht enthalten. Die Fortgeltung der nuklearen Teilhabe (d. h. die Übertragung der Verfügungsgewalt über Atomwaffen im Kriegsfall) auch nach Inkrafttreten des NPT würde den Wortlaut und den Sinn und Zweck des NPT in sein Gegenteil verkehren. Sie kann gemäß Art. 19 lit c WVK nicht Inhalt eines völkerrechtlichen Vorbehalts sein und ist als Vorbehalt unwirksam.48

 

Die Erklärungen der Bundesregierung können lediglich als Interpretationserklärungen angesehen werden. Diese unterscheiden sich von einem Vorbehalt dadurch, dass sie nicht den Ausschluss oder die Änderung einer Vertragsbestimmung bezwecken, sondern lediglich die Klarstellung.49 Mehr noch als ein Vorbehalt darf eine Auslegung nicht dem unmissverständlichen Wortlaut oder dem Ziel und Zweck des gesamten Vertrages widersprechen. Das wäre jedoch bei der „Klarstellung“ der Bundesregierung der Fall, die im Kriegsfall eine Übertragung der Verfügungsgewalt über Atomwaffen bedeutet. Sie ist nach Art. 31 Abs.1 WKV und entsprechend Art. 19 lit c WVK unzulässig und damit ohne Rechtswirkung. Möglicherweise übereinstimmende bilaterale Interpretationen der Bundesregierung und der USA (Rusk-Brief), die im Kriegsfall die Kernvorschriften des NPT gegenstandslos machen würde, stellt die Wirksamkeit des NPT nicht infrage und berechtigt die beiden Staaten nicht, den Vertrag zu brechen.50

 

Auch das seit Bestehen der nuklearen Teilhabe praktizierte Üben des Abwurfes von Atombomben verlangt keine andere Bewertung. Zwar ist gemäß Art. 31 Abs.3 lit b WVK „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages“ zu berücksichtigen. Jedoch nur, wenn aus ihr „die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht.“ Die Proteste zahlreicher Nicht-Atomwaffenstaaten gegen die nukleare Teilhabe sprechen dagegen.

 

Die NATO-Staaten nehmen nach wie vor den sog. “Kriegsvorbehalt“ in Anspruch. Danach soll der NPT dann nicht mehr gelten, wenn „eine Entscheidung, Krieg zu führen, getroffen wird“ („in welchem Zeitpunkt der Vertrag nicht mehr maßgebend wäre“).51 Wenn dieser öffentlich verschwiegene Kriegsvorbehalt völkerrechtlich wirksam wäre, würde er den NPT und das in ihm enthaltene Verbot der Weitergabe von Atomwaffen an Nicht-Atomwaffenstaaten im Spannungs- und Kriegsfall praktisch gegenstandslos machen.

 

Belege für das völkerrechtlich wirksame Zustandekommen eines förmlichen Vorbehalts zu Art. 2 des NPT sind der Öffentlichkeit bislang nicht vorgelegt worden. Es bestehen gewichtige völkerrechtliche Einwände gegen seine Wirksamkeit, und zwar sowohl hinsichtlich des Verfahrens (fehlende nachgewiesene Kenntnisgabe an die NPT-Vertragspartner gem. Art. 23 WVK) als auch in materieller Hinsicht (Vereinbarkeit i.S.v. Art. 19 WVK mit Ziel und Zweck des NPT).

 

Die Übergabe der Atomwaffen an Soldaten der Bundeswehr verletzt den NPT. Wenn der Transport zu den Zielen und der Abwurf völkerrechtswidrig sind, lassen sich die dem Einsatz dienende Stationierung und die Einsatzübungen mit Atomwaffen durch die Bundeswehr nicht mit dem Völkerrecht rechtfertigen.

 

Mit der Ratifizierung ist der NPT nach Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich anzuwendendes Völkervertragsrecht geworden und verpflichtet nach Art. 20 Abs. 3 GG auch die Bundesregierung und die Soldaten der Bundeswehr.

 

5.4. Gegen alle an einem Atombombeneinsatz mitwirkenden Personen ist ein Strafverfahren wegen Völkerrechtsverbrechen einzuleiten. Sie müssen sich u.a. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 und Kriegsverbrechen nach § 8 Völkerstrafgesetzbuch rechtfertigen. Nach § 7 VStGB ist die Tötung von Menschen im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung strafbar und nach § 8 VStGB die Tötung der durch das humanitäre Völkerrecht geschützten Personen in einem bewaffneten Konflikt.52 Ein „Handeln auf Befehl“ entschuldigt nicht, weil das Gutachten des IGH jeden Atomwaffeneinsatz als Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht wertet. Allen Soldaten ist zudem durch die „Taschenkarte über das in bewaffneten Konflikten zu beachtende humanitäre Völkerrecht“ des Bundesverteidigungsministeriums (Ausgaben 2006 und 2008) der Einsatz von Atomwaffen aus Rechtsgründen verboten worden.

 

6) Kritik und Wege aus der nuklearen Teilhabe

 

Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die US-Nuklearwaffen in Europa aus Sicht der NATO vor allem eine politisch-psychologische Funktion erfüllt. Sie haben ein Zeichen dafür gesetzt, dass die nukleare Abschreckung auch für deren neue Mitglieder gilt, dass man die NATO-Staaten nicht auseinanderdividieren kann und die Verantwortung für die Nuklearpolitik gemeinsam getragen wird. Ihre spezifische militärische Funktion hatten diese Waffen dagegen weitgehend verloren.53 Sie sind militärisch überflüssig geworden.

 

Die aktuelle Entwicklung von kleinen, zielgenauen Sprengköpfen für die Trident-Raketen mit kleiner Sprengkraft, die auf 14 atomaren U-Booten der Ohio-Klasse der US-Marine eingesetzt werden, haben die US-Marine in die Lage versetzt, an jedem beliebigen Ort begrenzte Atomschläge durchzuführen.54 Der riskante Transport von taktischen Atomwaffen mit Hilfe von Flügen ins gegnerisches Staatsgebiet, mit dem hohen Risiko eines Abschusses55, wird damit überflüssig. Zudem entfällt beim Einsatz der Trident-Raketen für die USA die in der NATO vorgesehene Absprache mit den Verbündeten.

 

In den letzten Jahren ist eine zunehmende Verschlechterung des politischen Klimas zwischen der USA/NATO/EU und Russland zu beobachten. NATO und Russland bauen gegenseitig ein militärisches Bedrohungsszenarium auf, bei dem Atomwaffen eine entscheidende Rolle spielen. So drohte US-Präsident Biden im Juli 2021 mit Blick auf die russischen Cyber-Angriffe die USA mit Atomwaffen zu verteidigen, wenn eine andere Großmacht die US-Infrastruktur durch einen großen Cyberangriff beschädigen sollte.56 Die deutsche Verteidigungsministerin Kamp-Karrenbauer drohte am 21. Oktober 2021 Russland im Rahmen der NATO-Abschreckungsstrategie mit dem Einsatz von Atomwaffen.57 Nach einer Meldung der FAZ übten bei der NATO-Übung „Steadtfast Noon“ im Herbst 2020 Bundeswehrsoldaten in Büchel den Atombombeneinsatz gegen Russland.58

 

Die militärische Rolle Deutschlands in diesem Zusammenhang ist widersprüchlich. Einerseits machen Atombomben-Einsätze mit den in Büchel stationierten Tornados militärisch wenig Sinn. Andererseits fühlen sich deutsche Politiker wieder aktiv in die nukleare Abschreckungsstrategie der NATO eingebunden. Die Aufrechterhaltung der nuklearen Teilhabe lässt nur den Schluss zu, dass diese - ohne militärischen Nutzen - dazu dient, die Verbündeten enger an die NATO-Führungsmacht USA zu binden und in deren Konflikte einzubeziehen. Das sollte in Deutschland Veranlassung dafür geben über die Sinnhaftigkeit der Beteiligung an der nuklearen Abschreckung nachzudenken.

 

Alle Konzepte und Strategien der nuklearen Abschreckung gehen davon aus, der potentielle Gegner könne dadurch von einem nuklearen Angriff wirksam abgeschreckt werden, indem man ihm einen militärischen Gegenschlag androht, der für ihn zu unannehmbaren Folgen und Schäden, wenn nicht zur vollständigen Vernichtung in einem nuklearen Inferno führen werde.

 

Konstitutiver Bestandteil für ein „Funktionieren“ dieser Abschreckungs-Strategie ist dabei jedoch denknotwendig stets, dass man es mit einem rational kalkulierenden Gegner zu tun hat, der auf der Basis hinreichender und ihm auch ad hoc zur Verfügung stehender Informationen ausschließlich rationale Entscheidungen trifft. Das Abschreckungskonzept kann mithin schon nach seiner eigenen „Logik“ nicht funktionieren, wenn es um die Abschreckung eines „irrationalen“ Gegners geht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn dieser für „rationale“ Argumente nicht zugänglich ist, also wenn er – aus welchen Gründen auch immer – zur Benutzung rationaler Abwägungskalküle nicht imstande oder nicht willens ist. Historische Beispiele für solche „abschreckungsresistenten“ Gegner waren jedenfalls im 20. Jahrhundert, dem blutigen „Zeitalter der Extreme“, nicht gerade selten; man stelle sich vor, sie hätten über Atomwaffen verfügt.59 Die aktuelle Weltpolitik zeigt ähnliche Gefahren.

 

Aber auch dann, wenn man es mit einem prinzipiell “rationalen Gegner“ zu tun hat, ist die Funktionsfähigkeit der nuklearen Abschreckung davon abhängig, dass diesem Gegner nach den konkreten Umständen hinreichende zeitliche und informatorische Kapazitäten zur Verfügung stehen, um kritische Entscheidungssituationen in dem erforderlichen Maß abzuschätzen und beurteilen zu können sowie hieraus in der zur Verfügung stehenden knappen Zeit verantwortliche Folgerungen zu ziehen. Es ist äußerst fraglich und ungewiss, dass dies – wenn es für das Überleben der Menschheit darauf ankommt – der Fall ist.60

 

Die Abschreckungs-“Logik“ funktioniert auch dann nicht und stößt an gefährliche Grenzen, wenn menschliche Fehleinschätzungen oder „technisches Versagen“ wirksam werden. Dies ist etwa der Fall, wenn sich elektronische Fehlinformationen in Kommunikationssysteme einschleichen oder andere Defekte dort wirksam werden, die es für die jeweils andere Seite angesichts sehr kurzer Vorwarnzeiten sehr schwer oder sogar unmöglich machen, sicher zu diagnostizieren ob in der konkreten Entscheidungssituation die z.B. aus den Computersystemen verfügbaren Daten auf einen gegnerischen Angriff schließen lassen oder nicht.61

 

In den vergangenen 70 Jahren gab es in der SU/Russland und in den USA zumindest zwanzig äußerst kritische Situationen, in denen die Welt am Rande eines nuklearen Infernos stand. Allein aufgrund sehr glücklicher Umstände entging die Welt dabei einer nuklearen Katastrophe. In den vergangenen Jahrzehnten des nuklearen Zeitalters ist das Überleben der Menschheit – wie es der frühere US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara zutreffend formuliert hat – letztlich glücklichen Zufällen zu verdanken.62

 

Das Risiko für Deutschlands Beteiligung an der nuklearen Abschreckungsstrategie der NATO ist deutlich höher als ihr Nutzen. Ein mit Atomwaffen geführter Krieg unter Beteiligung Deutschlands würde voraussichtlich wesentliche Teile unseres Landes zerstören, darin alles Leben vernichten und das Zielgebiet für lange Zeit unbewohnbar machen. Es wäre eine Rückkehr in die Zeit des Kalten Krieges, in dem bei allen Planungen die BRD das Schlachtfeld einer atomaren Auseinandersetzung war. Verantwortliche Politik sieht anders aus.

 

Die sog. Palme-Kommission, an der neunzehn bedeutende Politiker und Fachleute aus Ost und West, Nord und Süd, darunter der frühere deutsche Bundesminister und Abrüstungsexperte Egon Bahr, mitgewirkt haben, hat Anfang der 1980er Jahre in der Hochphase des Kalten Krieges die lebensbedrohlichen Konsequenzen der Abschreckungsdoktrin eingehend analysiert und daraus bemerkenswerte Schlussfolgerungen gezogen, die sie in einem Alternativ-Konzept „gemeinsamer Sicherheit“ zusammengefasst hat:

 

„In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren politische, ökonomische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen in zunehmenden Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen.“63 Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig gesicherten Zerstörung ist Sicherheit deshalb nicht mehr vor dem potentiellen Gegner, sondern nur mit ihm zu erreichen.

 

Deutschland sollte nicht nur aus völkerrechtlichen, sondern auch aus politischen Gründen die nukleare Teilhabe beenden. Die in Deutschland stationierten atomaren US-Fliegerbomben sind für die neuen Ziele, die seit Ende des Kalten Krieges Aufnahme in die flexiblere „adaptive“ Zielplanung der NATO fanden, wenig geeignet. Im Rahmen der nuklearen Abschreckung erfüllen sie kaum Aufgaben, die nicht auch von den U-Boot-gestützten Atomwaffen erfüllt werden könnten, die der NATO im Ernstfall zur Verfügung stehen.64

 

Die von den US-Regierung ins Auge gefasste Verlagerung der in Deutschland stationierten Atomwaffen nach Polen wird die Bundesregierung nicht verhindern können. Ein atomwaffenfreies Deutschland wäre jedoch für die Welt und die Gegner einer atomaren Rüstung ein ermutigendes Zeichen. Bei einer atomaren Auseinandersetzung müsste Deutschland wie alle anderen Nicht-Atomwaffenstaaten behandelt und geschützt werden.

 

Bei der Beendigung der nuklearen Teilhabe würde die Mitgliedschaft Deutschlands im NATO-Bündnis fortbestehen. Deutschland hätte dieselben vertraglichen Rechte und Pflichten wie die anderen Nicht-Atomwaffenstaaten im Bündnis.

 

Der Weg zur deutschen Beendigung der nuklearen Teilhabe wäre einfach: Da laut BVerfG Deutschland die nukleare Teilhabe nicht durch Gesetz, sondern nur durch Regierungsabsprachen vereinbart hat65, könnte deren Beendigung durch eine Regierungserklärung und Mitteilung an die NATO-Partnerstaaten erreicht werden. Dasselbe Ergebnis könnte die Bundesregierung durch den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) erreichen, der am 22. Januar 2021 in Kraft getreten ist. Dieser bekräftigt die bestehenden völkerrechtlichen Verbote und würde ebenfalls Deutschland zur Beendigung der nuklearen Teilhabe verpflichten.

 

Auch der Bundestag hätte die Möglichkeit durch ein Gesetz die nukleare Teilhabe zu beenden. Die große Bundestagsmehrheit hat bereits mit dem Beschluss des Bundestags vom 26. März 2010 die Bundesregierung aufgefordert, sich mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.“66

 

Letztlich müsste auch eine Entscheidung des BVerfGs über die Völkerrechtswidrigkeit der nuklearen Teilhabe von der Bundesregierung beachtet und umgesetzt werden. Denn ebenso wie die Rechtsprechung ist die Bundesregierung als Teil der vollziehenden Gewalt nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden.

 

1 Wobei im Falle der Türkei unklar ist, ob die USA inzwischen die bislang in Incirlik stationierten Atomwaffen aus Sicherheitsgründen außer Landes geschafft hat. Berichten zufolge sind türkische Flugzeuge seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr für den Einsatz von Atomwaffen zertifiziert.

 

2 BVerfG, Beschluss vom 15.März 2018 (2BvR 1371/13)

 

3 Bundeszentrale für politische Bildung, BICC 01/2013

 

4 Peter Rudolf, Deutschland, die Nato und die nukleare Abschreckung, Stiftung Wissenschaft und Politik, Studie 11, Mai 2020

 

5 Die Fraktion DIE LINKE im Bundestag hat auf eine Anfrage die Bestätigung der Bundesregierung erhalten, dass der Flugbetrieb auf dem Fliegerhorst Büchel von Juni 2022 bis Februar 2026 wegen umfangreicher Bauarbeiten weitgehend eingestellt und auf den Militärflugplatz Nörvenich in Nordrhein-Westfalen verlegt wird. BT-Drucksache 19/12524

 

6 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages - WD 2 - 3000 - 102/20

 

7 Karl Brandstetter, Allianz des Mißtrauens, Köln 1989, S. 129

 

8 Ottfried Nassauer „50 Jahre Nuklearwaffen in Deutschland“ – AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE (APUZ 21/2005)

 

9 Nassauer aaO

 

10 Nassauer aaO

 

11 Nassauer aaO

 

12 Nassauer aaO

 

13 Strategisches Konzept für die Verteidigung und Sicherheit der Mitglieder der Nordatlantikvertrags-Organisation, 2010; Dieses strategische Konzept ist 2020 bestätigt worden „Solange Atomwaffen existieren, sollte die NATO sichere und verlässliche nukleare Kräfte unterhalten …“

 

14 Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Brüssel, 11.-12. Juli 2018, Gipfelerklärung, Rn. 34, S. 16, abgerufen am 28. April 2020 unter https://nato.diplo.de/blob/2203102/812d1237805aca2580d9db43a8ae1003/erklaerung-der-staats--und-regierungschefs- 2018-bruessel-data.pdf

 

15 Spiegel.de vom 9.7.2007

 

16 Vgl Fußnote 3

 

17 Nassauer aaO

 

18 Ostausschuss der deutschen Wirtschaft – ost-ausschuss.de vom 2.6.2021

 

19 FAZ.net vom 17.10.2020

 

20 Deutschlandfunk.de vom 21.10.2021, World Sozialist Webside vom 28.10.2021, ntv vom 24.10.2021

 

21 FAZ.net vom 18.10.2021

 

22 BT-Drucksache 19/19884, Handelsblatt online vom 4.11.2020, DGAP vom 3.2.2020

 

23 BT-Drucksache 19/27108, BT-Drucksache 19/26133

 

24 Anlage 10, Umdruck 41 zum Bundestagsprotokoll 25. März 1958

 

25 Bundestagsprotokoll aaO S. 1160

 

26 Die in Büchel stationierte B61-Fliegerbombe ist eine Wasserstoffbombe!

 

27 Deutscher Bundestag – Plenarprotokoll 17/35, Drucksache 17/1159

 

28 BVerfGE 40, 237 (249); 49, 89 (126); 83, 130 (142, 151 f.); 95, 267 (307).

 

29 BVerfGE 47,46 ff Ziffern III, 3,5

 

30 Durch die einsatzbereite Stationierung der Atomwaffen ist der verbliebene Stationierungsort Büchel Ziel gegnerischer atomarer Erstangriffe oder von atomaren Gegenschlägen. Die Bundeswehr übt bei den jährlichen NATO-Manövern „Steadtfast Noon“ mit Patriot-Flugabwehrraketen die Abwehr erwarteter atomarer Angriffe.

 

31 BVerfG Urteil vom 22.11.2001 – 2 BvE 6/99

 

32 BVerfG Urteil vom 22.11.2001 - 2 BvE 6/99 -RdNR 131

 

33 BGBl. 1990 II S. 1551

 

34 IGH Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996 – deutsch und englisch in IALANA „Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof“, Münster 1997

 

35 IGH aaO Ziff. 78

 

36 IGH aaO Ziff. 104

 

37 Ziffern 40, 41, 42, 78 des Rechtsgutachtens, Ziff. 42 wörtlich: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann allein für sich genommen die Anwendung von Atomwaffen in Notwehr nicht unter allen Umständen ausschließen. Aber gleichzeitig muß eine Gewaltanwendung, die nach dem Notwehrrecht verhältnismäßig ist, um rechtmäßig zu sein auch die Forderungen des für bewaffnete Konflikte verbindlichen Rechts erfüllen, was insbesondere die Grundsätze und Regeln des humanitären Völkerrechts umfaßt.“

 

38 IALANA „Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof“, Münster 1997 S. 115

 

39 Bundesministerium der Verteidigung R II 3 - Druckschrift Einsatz Nr. 03 - DSK SF009320187

 

40 IGH-Gutachten aaO Ziff. 79

 

41 BGBl. 1973 II S. 1534

 

42 Human Rights Committee, General comment No. 36 (2018) on article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, on the right to life - 30 October 2018 - CCPR/C/GC/36

 

43 BGBl. 1974 II S. 786

 

44 Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe, Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, Frankfurt/M. 1992, S. 143

 

45 Bernd Hahnfeld, Nukleare Teilhabe ist völkerrechtswidrig, W&F 2/2020 S. 46 ff.

 

46 BGBl 1985 II S. 927

 

47 Wolfgang Graf Vitzthum in Wolfgang Graf Vietzthum, Völkerrecht 4. Auflage, 1.Abschnitt RdNr. 123; von Heinegg aaO § 12 RdNr. 12

 

48 Bernd Hahnfeld aaO

 

49 von Heinegg aaO §15 RdNr. 4

 

50 Bernd Hahnfeld aaO

 

51 Vgl. dazu die dem Deutschen Bundestag von der Bundesregierung für die Beratung des Zustimmungsgesetzes vor der Ratifizierung des NPT vorgelegte Denkschrift des Auswärtigen Amtes. In dieser wird die entsprechende US-amerikanische „Interpretationserklärung“ („Rusk-Brief“) wiedergegeben und in der Bundestagsdrucksache 7/994, S. 17 auch veröffentlicht. Sie wurde und wird aber öffentlich kaum zur Kenntnis genommen. Die Bundestagsdrucksache 7/994 ist hier einsehbar: http://www.ialana.de/images/pdf/arbeitsfelder/atomwaffen/atomsperrvertrag/Seite_16-20_aus_0700994.pdf.

 

52 Bernd Hahnfeld, Die Nuklear-Strategie der NATO - Das Völkerrecht und strafrechtliche Konsequenzen, Wissenschaft und Frieden 2/2005 S. 39 – Mit dem Völkerstrafgesetzbuch vom 26. Juni 2002 hat Deutschland die im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs geregelten Verbrechenstatbestände in das deutsche materielle Strafrecht übernommen.

 

53 Bundeszentrale für politische Bildung, BICC 01/2013,

 

54 Ottfried Nassauer „Nukleare Teilhabe – überholtes Konzept ohne Funktion“ Bits.de 18.4.2020

 

55 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages - WD 2 - 3000 - 035/20

 

56 DW 28.7.2021

 

57 WSWS.ORG 28.10.2021, FR-online 24.10.2021, Spiegel-online 25.10.2021

 

58 FAZ-online 17.10.20

 

59 IALANA Atomzeitalter beenden, 2019 S. 7

 

60 IALANA aaO

 

61 IALANA aaO

 

62 Einige konkrete Vorfälle hat IALANA, aaO S.3 ff. dokumentiert

 

63 vgl. Der Palme Bericht, Hrsg. Olof Palme/H.Rogge, Berlin 1982; IALANA aaO S. 8

 

64 Siehe Fußnote 3, Otfried Nassauer Bits.de „Aus der Zeit gefallen – Atomwaffen in Deutschland“, Interview 7.7.2020

 

65 Siehe Fußnote 32

 

66 Deutscher Bundestag – Plenarprotokoll 17/35