Viele Gruppen, die am Atomwaffen-Stüzpunkt Büchel protestieren, sind Mitglied bei ICAN - Deutschland, Puschkinallee 5, 12435 Berlin, mail: office@ican.berlin
Link: Radio Sendung vom 11.12.2017
Kaum einer kennt sie: die Anti-Atomwaffen-Kampagne ICAN. Mit der Verleihung des Nobelpreises dürfte sich das ändern. Es sei ein Gefühl der Anerkennung, sagt ICAN-Sprecherin Anne Balzer der DW.
Nobelpreis 2017. Rede vom Friedensnobelpreisträger/innen
Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) vorgetragen von Beatrice Fihn und Setsuko
Thurlow
Oslo, den 10. Dezember 2017
[Beatrice Fihn tritt ans Rednerpult]
Eure Majestäten
Sehr geehrte Mitglieder des norwegischen Nobelkomitees
Sehr verehrte Gäste
Es ist mir eine große Ehre, heute den Friedensnobelpreis 2017 im Namen tausender engagierter Menschen entgegenzunehmen, die sich zur „Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen“ zusammengeschlossen haben. Gemeinsam haben wir Demokratie zur Abrüstung gebracht, und wir formen das Völkerrecht neu. Demütig danken wir dem norwegischen Nobelpreiskomitee, dass es unsere Arbeit gewürdigt und unserem wichtigen Anliegen neue Impulse gegeben hat. Wir möchten denjenigen danken, die dieser Kampagne großzügig ihre Zeit und Energie gewidmet haben. Wir danken den couragierten Außenministern, Diplomaten, den Mitarbeitern des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds, den UN-Beamten, Wissenschaftlern und Experten, mit denen wir partnerschaftlich zusammengearbeitet haben, um unser gemeinsames Ziel voranzubringen. Und wir danken all denjenigen, die sich dafür einsetzen, die Welt von dieser furchtbaren Bedrohung zu befreien. -- An Dutzenden von Orten weltweit - in Raketensilos, die in unserer Erde eingegraben sind, auf UBooten, die durch unsere Ozeane navigieren, und an Bord von Flugzeugen, die hoch oben an unserem Himmel fliegen - gibt es 15.000 Objekte, die die Menschheit zerstören können. Vielleicht ist es die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache, vielleicht auch das unvorstellbare Ausmaß der Folgen, die viele dazu bringen, diese düstere Realität einfach zu akzeptieren. Die ihr tägliches Leben führen wollen, ohne an diese Instrumente des Wahnsinns um uns herum zu denken. Denn es ist Wahnsinn, wenn wir zulassen, dass diese Waffen uns regieren. Viele Kritiker unserer Bewegung behaupten, dass wir irrational sind, Idealisten, die nicht auf dem Boden der Realität stehen, und dass die Atomwaffenstaaten niemals ihre Waffen aufgeben werden. Dabei sind wir die Einzigen, die einen rationalen Standpunkt vertreten. Wir vertreten diejenigen, die sich weigern, Atomwaffen als einen festen Bestandteil unserer Welt zu akzeptieren, diejenigen, die sich weigern, ihr Schicksal mit einigen wenigen Zeilen eines Startcodes zu verknüpfen. Unsere Realität ist die einzig mögliche. Jede Alternative ist undenkbar. Die Geschichte der Atomwaffen wird ein Ende haben, und es liegt an uns, was für ein Ende dies sein wird. Wird es das Ende der Atomwaffen sein oder unser eigenes Ende? Eines dieser beiden Szenarien wird eintreten. Die einzige rationale Handlungsweise ist, nicht länger unter Bedingungen zu leben, unter denen unsere gegenseitige Vernichtung nur einen impulsiven Wutanfall entfernt liegt. -- Ich möchte heute über drei Dinge sprechen: über Angst, Freiheit und Zukunft. Selbst diejenigen, die über Atomwaffen verfügen, geben unumwunden zu, dass ihr wahrer Nutzen darin besteht, Angst zu verbreiten. Wenn sie auf die „abschreckende“ Wirkung verweisen, feiern die Befürworter von Atomwaffen Angst als eine Waffe des Kriegs. Sie schlagen sich auf die Brust und erklären ihre Bereitschaft, blitzartig unzählige Menschenleben auszulöschen. Der Nobelpreisträger William Faulkner sagte Folgendes, als er 1950 den Preis entgegennahm: „Es stellt sich nur die Frage, wann ich in die Luft gesprengt werde“. Seitdem hat diese universelle Angst zu etwas geführt, was noch viel gefährlicher ist: das Verleugnen. Die Angst vor dem Untergang der Welt ist verschwunden, verschwunden ist das Gleichgewicht zwischen den Blöcken, das als Rechtfertigung für die Abschreckung diente, verschwunden sind die Atomschutzbunker. Aber etwas ist geblieben: Abertausende von Atomsprengköpfen, die uns in Angst versetzen. Das Atomwaffenrisiko ist heute sogar größer als bei Ende des Kalten Krieges. Denn im Gegensatz zum Kalten Krieg, gibt es heute ungleich mehr Atomwaffenstaaten, Terroristen und Cyber- Kriegsführung. All dies macht unser Leben weniger sicher. Dabei war unser nächster großer Fehler, dass wir gelernt haben, in blindem Einverständnis mit diesen Waffen zu leben. Die Angst ist rational. Die Bedrohung ist real. Den Atomkrieg haben wir nicht durch umsichtige Führung sondern durch reines Glück verhindert. Wenn wir nicht handeln, wird sich unser Glück früher oder später erschöpfen. Ein Moment der Panik oder Unachtsamkeit, ein fehlgedeuteter Kommentar oder ein verletztes Ego können leicht und unentrinnbar zur Vernichtung ganzer Städte führen. Eine kalkulierte militärische Eskalation kann zur wahllosen Massenvernichtung von Zivilisten führen. Würde nur ein Bruchteil des heutigen Atomwaffenarsenals eingesetzt, würden der Ruß und der Rauch der Feuerstürme bis hoch in die Atmosphäre dringen - und die Erdoberfläche wäre für mehr als ein Jahrzehnt kalt, dunkel und vertrocknet . Ernten wären vernichtet und Milliarden von Menschen liefen Gefahr zu verhungern. Und dennoch verleugnen wir diese existenzielle Bedrohung weiter. Aber Faulkner hatte in seiner Nobelpreisrede auch eine Botschaft für diejenigen, die nach ihm kommen. Nur als eine Stimme der Menschlichkeit, sagte er, können wir die Angst besiegen, können wir dazu beitragen, dass die Menschheit fortbesteht. Die Aufgabe von ICAN ist es, diese Stimme zu sein, die Stimme der Menschlichkeit und das humanitäre Völkerrecht, und im Namen der Zivilbevölkerung laut zu sprechen. Indem wir der humanitären Perspektive eine Stimme geben, erreichen wir das Ende der Angst und des Verleugnens , und letztendlich sogar das Ende der Atomwaffen. Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt: der Freiheit. Die „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“, die erste Anti-Atomwaffenorganisation, die diesen Nobelpreis bekommen hat, sagte 1985 von dieser Bühne: „Wir Ärzte protestieren gegen die Anmaßung, die gesamte Welt als Geisel zu halten. Wir protestieren gegen die moralische Obszönität, dass jeder von uns ständig der Vernichtung preisgegeben ist.” Diese Worte sind 2017 noch genauso wahr. Wir müssen die Freiheit zurückgewinnen, unser Leben nicht als Geisel einer unmittelbar bevorstehenden Vernichtung zu leben. Männer - nicht Frauen! - haben Atomwaffen erschaffen, um andere zu beherrschen, aber stattdessen werden wir von ihnen beherrscht. Sie haben uns falsche Versprechungen gemacht, nämlich dass die Folgen des Einsatzes dieser Waffen so grausam sind, dass jedweder Konflikt von vornherein undenkbar wäre, dass uns die Waffen vor Kriegen bewahren würden. Weit davon entfernt Kriege zu verhindern, haben uns diese Waffen während des Kalten Krieges mehrfach an den Rand des Abgrunds gebracht. Und auch in diesem Jahrhundert treiben sie uns immer weiter zu Kriegen und Konflikten, wie z.B. im Irak, in Iran, in Kaschmir, in Nordkorea. Ihre Existenz bringt andere dazu , am nuklearen Wettrüsten teilzunehmen. Die Atomwaffen beschützen uns nicht, sie sind der Grund für Konflikte. Der Friedensnobelpreisträger Martin Luther King Jr. sagte es 1964 auf dieser Bühne: Diese Waffen sind nicht nur „Völkermord, sondern auch Selbstmord“. Sie sind die Pistole eines Wahnsinnigen, die ständig auf unsere Schläfe gerichtet ist. Diese Waffen sollten unsere Freiheit schützen, doch sie verwehren sie uns nur . Es ist ein Affront gegen die Demokratie, dass wir von diesen Waffen regiert werden. Aber es sind nur Waffen. Es sind nur Werkzeuge. Und so wie sie in einem geopolitischen Kontext entstanden sind, können sie genauso einfach wieder zerstört werden, indem sie in einen humanitären Kontext gestellt werden. -- Das ist die Aufgabe, die sich ICAN gestellt hat - und damit komme ich zu dem dritten Punkt, über den ich sprechen möchte - die Zukunft. Ich habe die Ehre, diese Bühne heute mit Setsuko Thurlow zu teilen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Zeugnis über die Schrecken eines Atomkrieges abzulegen. Sie und die Hibakusha erlebten den Anfang der Geschichte, und es ist unsere gemeinsame Aufgabe dafür zu sorgen, dass sie auch deren Ende bezeugen können. Sie durchleben die schmerzvolle Vergangenheit immer und immer wieder, damit wir eine bessere Zukunft gestalten können. Es gibt Hunderte von Organisationen, die gemeinsam als ICAN große Schritte in Richtung dieser Zukunft machen. Es gibt Tausende von unermüdlichen Aktivisten und Aktivistinnen auf der ganzen Welt, die sich bei ihrer Arbeit tagtäglich dieser Herausforderung stellen. Es gibt Millionen von Menschen auf der ganzen Welt, die Seite an Seite mit diesen Aktivisten und Aktivistinnen gekämpft haben, um weiteren hunderten von Millionen zu zeigen, dass eine andere Zukunft tatsächlich möglich ist. Diejenigen, die sagen, dass diese Zukunftunmöglich sei , müssen den Weg freigeben für diejenigen, die sie gerade wahr machen. Als Höhepunkt dieser Basisbewegung wurde dieses Jahr durch die Aktionen ganz normaler Menschen ein Schritt von der Theorie zur Praxis vollzogen, als 122 Nationen einen UN-Vertrag aushandelten und verabschiedeten , um diese Massenvernichtungswaffen zu verbieten. Der UNVertrag über ein Verbot von Atomwaffen eröffnet in Zeiten einer großen globalen Krise einen Weg. Er ist ein Licht in dunklen Zeiten.Und mehr noch, er eröffnet uns die Wahl.Die Wahl zwischen den beiden Enden, dem Ende der Atomwaffen oder unserem eigenen Ende. Es ist keineswegs naiv, an die erste Wahl zu glauben, und es ist keineswegs irrational zu denken, dass Atommächte abrüsten können. Es ist nicht idealistisch, an das Leben statt an Angst und Vernichtung zu glauben, sondern es ist eine Notwendigkeit. Wir alle stehen vor dieser Entscheidung. Und ich fordere alle Nationen auf, dem UN-Vertrag über ein Verbot von Atomwaffen beizutreten. Vereinigte Staaten, entscheidet euch für die Freiheit statt für die Angst. Russland, entscheide dich für Abrüstung statt für Zerstörung. Großbritannien, entscheide dich für Rechtsstaatlichkeit statt für Unterdrückung. Frankreich, entscheide dich für die Menschenrechte statt für den Terror. China, entscheide dich für die Vernunft statt für die Unvernunft. Indien, entscheide dich für das Sinnvolle statt für das Sinnlose. Pakistan, entscheide dich für die Logik statt für den Weltuntergang. Israel, entscheide dich für den gesunden Menschenverstand statt für die Vernichtung. Nordkorea, entscheide dich für die Weisheit statt für den Untergang. Die Nationen, die glauben, durch Atomwaffen geschützt zu sein, frage ich, wollt ihr mitschuldig sein an eurer eigenen Vernichtung und der Vernichtung anderer in eurem Namen? Und ich fordere alle Nationen auf, sich für das Ende der Atomwaffen statt für das eigene Ende zu entscheiden. Das ist die Wahl, die uns der UN-Vertrag über ein Verbot von Atomwaffen eröffnet. Tretet diesem Abkommen bei. Wir Bürger leben unter einem Schirm der Unwahrheit. Diese Waffen geben uns keine Sicherheit, sondern verseuchen unser Land und Wasser, vergiften unsere Körper und halten unser Recht auf Leben als Geisel. Ich rufe alle Bürger dieser Welt auf, uns zu unterstützen und ihre Regierungen aufzufordern, sich auf die Seite der Menschlichkeit zu stellen und diesen Vertrag zu unterzeichnen. Wir werden nicht eher ruhen, bis sich alle Staaten auf die Seite der Vernunft gestellt haben. -- Keine Nation brüstet sich heutzutage mehr damit, chemische Waffen zu haben. Keine Nation behauptet, dass es unter extremen Umständen akzeptabel ist, das Nervengas Sarin einzusetzen. Keine Nation nimmt für sich das Recht in Anspruch, ihre Feinde mit der Pest oder Kinderlähmung zu überziehen. Das ist so, weil internationale Regeln aufgestellt wurden und sich Wahrnehmungen verändert haben. Und nun haben wir endlich eine unmissverständliche Regel gegen Atomwaffen. Große Schritte vorwärts beginnen nie mit dem Einverständnis aller. Mit jedem neuen Unterzeichner und jedem weiteren Jahr greift diese Wirklichkeit mehr. Das ist die richtige Richtung. Es gibt nur einen Weg, den Einsatz von Atomwaffen zu verhindern: sie zu verbieten und zu vernichten. -- Wie zuvor chemische Waffen, biologische Waffen, Streumunition und Landminen sind Atomwaffen nun illegal geworden. Ihre Existenz ist unmoralisch. Ihre Abschaffung liegt in unserer Hand. Ein Ende ist unvermeidbar. Aber wird es das Ende der Atomwaffen sein oder unser eigenes? Wir müssen uns für eines von beiden entscheiden. Wir sind eine Bewegung für die Vernunft. Für Demokratie. Für die Freiheit von Angst. Wir sind Aktivisten und Aktivistinnen aus 468 Organisationen, die sich dafür einsetzen, die Zukunft sicherer zu machen. Und wir vertreten die moralische Mehrheit: die Milliarden von Menschen, die das Leben statt den Tod wählen und gemeinsam das Ende der Atomwaffen erleben wollen. Vielen Dank.
[Setsuko Thurlow tritt ans Rednerpult]
Eure Majestäten
Sehr geehrte Mitglieder des norwegischen Nobelkomitees
Liebe Mitstreiter und Mitstreiterinnen hier und überall auf der ganzen Welt
Meine Damen und Herren
Es ist ein großes Privileg, diesen Preis gemeinsam mit Beatrice im Namen all der bewundernswerten Menschen der ICAN-Bewegung entgegenzunehmen. Sie alle geben mir eine enorme Hoffnung, dass wir das Atomwaffenzeitalter beenden können und werden. Ich spreche als Mitglied der Familie der Hibakusha - derjenigen von uns, die durch einen wundersamen Zufall den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki überlebt haben. Seit mehr als sieben Jahrzehnten setzen wir uns für die vollständige Abschaffung von Atomwaffen ein. Wir sind solidarisch mit all denjenigen, denen irgendwo auf der Welt durch die Produktion und die Erprobung dieser schrecklichen Waffen ein Leid angetan wurde. Menschen aus Orten mit längst vergessenen Namen wie Moruroa, Ekker, Semipalatinsk, Maralinga, Bikini. Menschen, deren Land und Meer verstrahlt wurden, mit deren Körpern experimentiert wurde, deren Kulturen für immer aus dem Gleichgewicht gebracht wurden. Wir fügen uns nicht in die Opferrolle. Wir weigern uns, auf ein plötzliches flammendes Ende oder die langsame Vergiftung der Welt zu warten. Wir weigern uns, untätig und in Schrecken zu verharren, wenn uns die so genannten Großmächte in atomaren Neben hüllen und uns rücksichtslos nahe an die nukleare Mitternacht bringen. Wir haben uns erhoben. Wir teilen unsere Geschichten vom Überleben. Und wir sagen: Menschlichkeit und Atomwaffen können nicht nebeneinander existieren. Heute in diesem Saal möchte ich, dass Sie die Gegenwart all jener Menschen spüren, die in Hiroshima und Nagasaki ums Leben gekommen sind. Ich möchte, dass Sie über und um uns herum die große Wolke einer Viertelmillion Seelen spüren. Jede Person hatte einen Namen. Jede Person wurde von jemandem geliebt. Sorgen wir dafür, dass ihr Tod nicht vergeblich war. Ich war gerade einmal 13 Jahre alt, als die Vereinigten Staaten die erste Atombombe über meiner Heimatstadt Hiroshima abwarfen. Dieser Morgen ist mir eindringlich im Gedächtnis geblieben. Um 8:15 Uhr sah ich vom Fenster aus einen blendenden, bläulich-weißen Blitz. Ich erinnere mich daran, dass ich das Gefühl hatte, in der Luft zu schweben. Als ich in der Stille und Dunkelheit das Bewusstsein wieder erlangte, fand ich mich eingeklemmt zwischen eingestürzten Gebäudeteilen. Ich hörte die schwachen Schreie meiner Mitschüler: „Mutter, hilf mir, Gott hilf mir.“ Dann fühlte ich plötzlich, wie mich Hände an der linken Schulter berührten und ich hörte einen Mann sagen: „Gib nicht auf! Kämpf weiter! Ich versuche dich zu befreien. Siehst du das Licht, das durch diese Öffnung scheint? Kriech dorthin, so schnell du kannst.” Als ich draußen war, standen die Ruinen in Flammen. Die meisten meiner Mitschüler verbrannten bei lebendigem Leib in diesem Gebäude. Um mich herum sah ich eine heillose, unvorstellbare Verwüstung. Prozessionen gespenstischer Gestalten zogen vorüber. Grausam verwundete Menschen, sie bluteten, sie waren verbrannt, geschwärzt und geschwollen. Teile ihrer Körper fehlten. Das Fleisch und die Haut hing ihnen von den Knochen. Einige hielten ihre Augäpfel in den Händen. Einige hatten aufgeborstene Bäuche und ihre Eingeweide hingen heraus. Der schreckliche Geruch verbrannten Fleisches hing in der Luft. So wurde meine geliebte Stadt mit einer einzigen Bombe ausgelöscht. Die meisten Bewohner waren Zivilisten, die verbrannt, verdampft, verkohlt waren - darunter Mitglieder meiner eigenen Familie und 351 meiner Mitschüler und Mitschülerinnen. In den Wochen, Monaten und Jahren, die folgten, sollten viele Tausende weiterer Menschen durch die Spätfolgen der Strahlung sterben, oft auf willkürliche und mysteriöse Weise. Bis zum heutigen Tag tötet die Strahlung Überlebende. Wann immer ich mich an Hiroshima erinnere, kommt mir als erstes Bild mein vierjähriger Neffe Eiji in den Sinn - sein kleiner Körper war zu einem unkenntlichen, geschmolzenen Fleischklumpen geworden. Immer wieder bat er mit matter Stimme um Wasser, bis der Tod ihn von seiner Qual erlöste. Für mich steht er für alle unschuldigen Kinder dieser Welt, die in diesem Moment von Atomwaffen bedroht werden. Jede Sekunde eines jeden Tages gefährden Atomwaffen alle und alles, was wir lieben und schätzen. Wir dürfen diesen Wahnsinn nicht länger dulden. Unsere Qual und der bloße Kampf ums Überleben - sowie die Mühen, unsere Leben aus der Asche wieder aufzubauen - hat uns Hibakusha davon überzeugt, dass wir die Welt vor diesen apokalyptischen Waffen warnen müssen. Immer wieder und wieder haben wir unsere Erfahrung geteilt. Aber es gibt immer noch Menschen, die sich weigern, Hiroshima und Nagasaki als Gräueltaten anzuerkennen - als Kriegsverbrechen. Sie glauben immer noch der Propaganda, dass dies „gute Bomben“ gewesen seien, die einen „gerechten Krieg“ beendet hätten. Es war dieser Mythos, der zum entsetzlichen atomaren Wettrüsten geführt hat - ein Wettlauf, der bis heute anhält. Neun Nationen drohen noch immer damit, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen, das Leben auf der Erde zu zerstören und unsere schöne Welt für zukünftige Generationen unbewohnbar zu machen. Die Entwicklung von Kernwaffen bedeutet nicht den Aufstieg eines Landes zu Größe, sondern seinen Abstieg in die dunkelsten Tiefen der Verderbnis. Diese Waffen sind kein notwendiges Übel, sie sind das größte Übel. Am 7. Juli diesen Jahres war ich von Freude überwältigt, als die große Mehrheit der Nationen der Welt dafür stimmte, den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen anzunehmen. Nachdem ich die Menschheit in ihrer schlimmsten Form erlebt hatte, erlebte ich an diesem Tag die Menschheit in ihrer besten. Wir Hibakusha haben 72 Jahre auf dieses Verbot gewartet und wir hoffen, dass dies der Anfang vom Ende der Atomwaffen sein wird. Alle verantwortungsvollen Führer werden diesen Vertrag unterzeichnen. Und die Geschichte wird diejenigen, die sich weigern, streng richten. Ihre abstrakten Theorien werden nicht länger die völkermörderische Wahrheit ihrer Praktiken maskieren. „Abschreckung“ darf nicht länger als irgendetwas anderes gesehen werden als eine Verhinderung von Abrüstung. Wir werden nicht länger unter dem Atompilz der Angst leben. Den Vertretern der Atomwaffenstaaten - und ihren Verbündeten unter dem so genannten „nuklearen Schutzschirm” sage ich Folgendes: Hören Sie auf unsere Bezeugungen. Beherzigen Sie unsere Warnungen. Und seien Sie sich bewusst, dass Ihre Handlungen Folgen haben. Sie alle sind ein wichtiger Bestandteil in einem System der Gewalt, das die Menschheit bedroht. Lassen Sie uns wachsam sein gegenüber der Banalität des Bösen. Ich beschwöre die Präsidenten und Präsidentinnen, die Premierminister und Premierministerinnen aller Nationen der Welt: Treten Sie diesem Vertrag bei, machen Sie für immer Schluss mit der Bedrohung durch atomare Vernichtung. Als 13-jähriges Mädchen, eingeschlossen in den schwelenden Trümmern, habe ich weitergekämpft, mich weiter auf das Licht zubewegt. Und ich habe überlebt. Unser Licht ist nun der Vertrag über das Verbot. Und ich wiederhole die Worte, die mir in den Ruinen von Hiroshima zugerufen wurden, für alle in diesem Saal und für alle, die in der ganzen Welt zuhören: „Gebt nicht auf! Kämpft weiter! Seht ihr das Licht? Kriecht dorthin.” Lasst uns einander folgen aus der Dunkelheit des atomaren Schreckens, wenn wir heute Abend mit strahlenden Fackeln durch die Straßen von Oslo marschieren. Wir werden uns weiter bewegen, weiterkämpfen und dieses Licht mit anderen teilen, was für Hindernisse uns auch immer entgegenstehen. Das ist unsere Leidenschaft und unsere Verpflichtung, damit unsere einzige kostbare Welt überleben kann.
Liebe Friedensfreunde, liebe Friedensfreundinnen,
Morgen Abend wird in Berlin gefeiert. Ganz viele junge Leute werden Party machen, und in den Sonntag hineinfeiern, an dem der Friedensnobelpreis 2017 an die Organisation ICAN verliehen wird. Am
Sonntag den 10.12. wird die Preisverleihung um 13 Uhr live im Internet übertragen. Unser Sohn Martin wird in Berlin mitfeiern und nach Oslo blicken. Er hat vor drei Jahren den deutschen Zweig von
ICAN gegründet. Er darf sich jetzt Friedensnobelpreisträger nennen. Sein Engagement begann schon vor 10 Jahren bei einer Aktionsreise nach Wien zur UNO, wo er mit 5 anderen Jugendlichen aus
Bretten Teil einer internationalen Jugenddelegation war. Diese Aktionsreise wurde von der Stadt Bretten im Rahmen der Brettener Friedenstage organisiert und mitfinanziert. Seitdem hat ihn dieses
Thema nicht losgelassen. Er hat in Genf Politik studiert, die Gründung von ICAN International in Genf miterlebt, und nahm für ICAN an internationalen Konferenzen in Oslo, Mexiko, Genf und New
York teil. Als er dann zum Studium nach Berlin ging, hat er dort mit Freunden zusammen den deutschen Zweig von ICAN gegründet.
Zwei Frauen stehen an der Spitze der Bewegung aktiv gegen Atomwaffen
Aber ich möchte nicht nur von unserem Sohn erzählen. Ich möchte Sie heute mit hineinnehmen in die Welt von ICAN: Wenn am Sonntag in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen wird, dann wird er von
zwei Frauen entgegengenommen:
Von der 34-jährigen Schwedin Beatrice Fihn, der Direktorin von ICAN International aus Genf. Neben ihr wird Setsuko Thorlow stehen, eine 85-jährige Japanerin, die heute in Kanada lebt.
Wer ist Setsuko Thurlow?
Die Japanerin Setsuko Thurlow ist in Hiroshima geboren. Als die Atombombe am
6. August 1945 die Stadt vernichtete, war sie ein Mädchen von 13 Jahren. Hätte sie sich im Stadtzentrum aufgehalten, wäre sie sofort in der Hitzewelle verglüht wie ihre Schwester und wie 140.000
Menschen, die meisten von ihnen Kinder, Frauen und alte Menschen. Oder sie hätte durch die radioaktive Strahlung Krebs bekommen. Und wäre daran gestorben, wie Tausende von Menschen allein in den
ersten Wochen und Monaten nach dem Atombomben-Abwurf. Noch etwas später starb ein anderes Mädchen aus Hiroshima, das bis zu seinem Tod Papierkraniche faltete und diese zu einem bekannten Zeichen
des Kampfes gegen Atomwaffen machte.
Setsuko aber hatte großes Glück. Sie war mit ihrer Schulklasse etwas außerhalb von Hiroshima, wurde verschüttet und gerettet. Setsuko und andere Überlebende aus Hiroshima und Nagasaki, man nennt
sie Hibakusha, haben ihr Überleben als Auftrag verstanden. Setsuko hat ihre ganze Lebensenergie darauf verwendet, „die Menschheit vor der Hölle des Atomkriegs zu warnen“, wie sie es selbst
ausdrückt.
Der Kampf gegen Atomwaffen war in den 80er-Jahren erfolgreich
Seit es Atomwaffen gibt, gibt es Menschen, die dagegen kämpfen. Und es ist schon viel erreicht worden. Die Zahl der Nuklearwaffen wurde reduziert, viele wurden verschrottet, auch aufgrund des
öffentlichen Drucks aus der Friedensbewegung in den 80er-Jahren. Heute beträgt die Zahl der atomaren Sprengköpfe weltweit noch rund 15 000. In den 80er Jahren waren es noch etwa 70 000, davon
Tausende in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR. Viele wurden aufgrund internationaler Verträge abgerüstet. Aber weiterhin sind 15.000 Nuklearwaffen eine Bedrohung für die gesamte
Menschheit und die Schöpfung. Doch den Staaten, die Atomwaffen besitzen, fehlt es bisher an politischem Willen, diese abscheulichen Waffen endgültig zu verbieten, so wie biologische und chemische
Waffen längst verboten sind.
Vor 10 Jahren bekam die Bewegung neuen Schwung
Setsuko Thurlow war lange Jahre verzweifelt darüber. Aber dann ist vor rund zehn Jahren Bewegung in die festgefahrene Situation gekommen. Junge Leute in aller Welt gründeten eine neue
zivilgesellschaftliche Initiative, eben die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen. 420 Organisationen schlossen sich zusammen. In 101 Ländern wurde ICAN gegründet, mit dem
Hauptsitz in Genf.
ICAN – eine junge Bewegung
Es sind vor allem ganz junge Leute, wie unser Sohn Martin in Berlin, die dabei mitmachen. Sie machten in vielen Reden und Aktionen klar: Wir wollen euer Spiel um Macht und Status, um
Nichtverbreitungsverträge und fehlende konkrete Abrüstung nicht mehr mitspielen. Denn es geht nicht um eure, sondern um unsere Zukunft. Wir akzeptieren nicht mehr, dass Atomwaffen anders
behandelt werden, als andere Massenvernichtungswaffen. Sie nehmen die ganze Menschheit in Geiselhaft. Sie gehören endlich geächtet und dürfen nicht mehr legitim sein, auch nicht für die Staaten,
die sie jetzt schon haben.
Es begann mit einer Reihe von internationalen Konferenzen
Internationale Konferenzen über die humanitären Folgen von Atomwaffen wurden organisiert. Ärzteorganisationen wie die IPPNW, die Ärzte gegen den Atomkrieg, und Hilfsorganisationen wie das
Internationale Kreuz erläuterten auf diesen Konferenzen, warum sie nicht helfen könnten, wenn auch nur eine einzige der heutigen Atomwaffen zur Explosion gebracht wird - wo und durch wen auch
immer, ob absichtlich oder durch ein Versehen. Immer mehr Diplomaten aus aller Welt begannen, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Papst Franziskus und der Ökumenische Rat der Kirchen
unterstützten die internationale Kampagne ICAN mehrfach öffentlich und eindeutig. Auch die Evangelische Landeskirche in Baden und ihr Forum Friedensethik schloss sich ICAN an. Viele Prominente
unterstützten ICAN öffentlich. Der amerikanische Schauspieler Martin Sheen, der Nobelpreisträger Desmond Tutu aus Südafrika, der Künstler Ai Weiwei aus China oder der Dalai Lama erklären auf der
Website von ICAN: wir können uns eine Welt ohne Atomwaffen vorstellen. Und wir wollen gemeinsam dagegen angehen.
Ein Kampf David gegen Goliath
Nach und nach verbündete sich die Zivilgesellschaft gegen die mächtige Atomwaffenlobby und die Atomwaffenstaaten. Es schien aussichtslos zu sein wie bei David gegen Goliath. Denn bis zuletzt
bekämpften die derzeitigen neun Atomwaffen-staaten die neue zivilgesellschaftliche Bewegung, übten öffentlich und heimlich großen Druck aus, und versuchten, den Atomwaffenverbotsvertrag zu
verhindern, allen voran die USA. Es gibt ein Geheimpapier aus der NATO, das vor diesem Vertrag warnt, weil er, selbst wenn die Atommächte ihm nicht zustimmen, doch die Produktion und
Stationierung von Atomwaffen erheblich behindern wird. Schließlich endete der diplomatische Streit und Kampf mit einem historischen Sieg der großen Mehrheit der Nicht-Atomwaffenstaaten.
Ein historischer Sieg
Am 7. Juli 2017 stimmten 122 der in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staaten einem völkerrechtlichen Vertrag zu, der Atomwaffen endgültig verbietet und konkrete Schritte bis zu ihrer
vollständigen Abschaffung benennt. Sobald 50 Staaten diesen Vertrag unterzeichnet und ratifiziert haben, tritt er in Kraft. Für Setsukow Thurlow aus Hiroshima war die Abstimmung in den Vereinten
Nationen in New York der schönste Moment in ihrem Leben - bisher, wie sie sagt. Setsukow Thurlow ist mit ihren 85 Jahren eine der führenden Persönlichkeiten bei ICAN International. Sie hat eine
zentrale Rolle beim Zustandekommen des Vertrags in den Vereinten Nationen gespielt. Seit siebzig Jahren kämpft sie gegen die Atombombe. Ihre Ansprachen auf diplomatischen Konferenzen haben
zahlreiche Menschen bewegt, sich der Bewegung für totale nukleare Abrüstung anzuschließen. Auch unser Sohn hat erzählt, wie sehr ihn die persönliche Begegnung mit Überlebenden aus Hiroshima wie
z.B. Setsuko Thorlow auf diesen Konferenzen geprägt hat.
In Deutschland ist der Kampf gegen Atomwaffen kein Thema
Doch die Medien hierzulande haben wenig davon berichtet. Und es ist ja mehr als peinlich, dass sich Deutschland dem Druck der USA gebeugt und sich nicht an den Vertragsverhandlungen beteiligt
hat. Doch nun hat das norwegische Friedensnobelpreiskomitee geistesgegenwärtig die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Atomwaffenverbotsvertrag gelenkt. Jetzt wird es darum gehen, weiter
Überzeugungsarbeit zu leisten. Damit, hoffentlich noch zu unseren Lebzeiten, Atomwaffen endgültig aus dem Arsenal der erlaubten Kriegswaffen verschwinden.
Atomwaffen werden eines Tages verschwinden
Beatrice Fihn, die Direktorin von ICAN in Genf ist davon überzeugt. Sie sagt in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „Eines Tages werden Atomwaffen verschwinden, ganz unspektakulär. Sie
sind militärisch nutzlos, weil sie nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden.“ Wollte man z.B. Nordkorea mit Atomwaffen auslöschen, so würde man auch Südkorea treffen. Und sie sind teuer. Die
Staaten werden eines Tages einsehen, dass sie diese Waffen nicht brauchen.
Wenn dies geschieht, wenn eines Tages der Abrüstungsprozess neuen Schwung bekommt, dann ist das auch den Mayors for Peace zu verdanken.
Die Mayors for Peace 1982 wurde die Organisation Mayors for Peace durch den Bürgermeister von Hiroshima gegründet. Aus der grundsätzlichen Überlegung heraus, dass Bürgermeisterinnen und
Bürgermeister für die Sicherheit und das Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger verantwortlich sind, versucht die Organisation Mayors for Peace durch Aktionen und Kampagnen die weltweite Verbreitung
von Atomwaffen zu verhindern und deren Abschaffung zu erreichen. 1991 wurden die Mayors for Peace vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen als Nichtregierungs-organisation
registriert. Inzwischen gehören dem Netzwerk weltweit über 7000 Städte und Gemeinden aus über 160 Ländern an. In Deutschland sind über 500 Mitglieder dem Bündnis beigetreten. Die Landeshauptstadt
Hannover ist eine der Vizepräsident- und Exekutivstädte des Bündnisses und Lead City für Deutschland.
Bretten ist seit 10 Jahren dabei.
Die Mayors for Peace sind übrigens eine der internationalen Partnerorganisationen von ICAN. So fällt ein wenig von dem Glanz des Friedensnobelpreises heute auch auf Bretten und seinen
Oberbürgermeister und alle Brettener Bürgerinnen und Bürger, die sich seit vielen Jahren bei den Brettener Friedenstagen engagieren und sich für ein Verbot von Atomwaffen einsetzen. Freuen wir
uns heute über den Friedensnobelpreis. Feiern wir mit ICAN und arbeiten wir weiter an dem Ziel einer Welt ohne Atomwaffen!