Atomwaffen: Heimlich abgerüstet. Von Oliver Meier, DIE ZEIT
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Die USA haben ein Drittel aller Atombomben aus Europa abgezogen - und niemand hat es bemerkt. Das zeigt: Nuklearwaffen zur Abschreckung Russlands werden weit überschätzt.
Die Atombomben in Europa haben ihre Bedeutung als rüstungskontrollpolitische Tauschware mit Russland, und als politische Symbole der Nato-Solidarität verloren, meint unser Gastautor Oliver Meier.
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Heimlich, still und leise hat Washington offenbar ein Drittel der in Europa stationierten US-Atomwaffen abgezogen. Die fehlenden politischen Reaktionen auf die Abrüstung belegen heute, dass die US-Atomwaffen in Europa politisch und militärisch an Bedeutung verloren haben.
Den Abzug haben Experten der Federation of American Scientists ans Licht gebracht. lm angesehenen Bulletin oft he Atomic Scientists schrieben die renommierten Fachleute Hans Kristensen und Matt
Korda, dass die USA die Anzahl ihrer Nuklearbomben in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei im Laufe der letzten Jahre deutlich reduziert haben. Demnach sind nun nicht
mehr 150 Atomwaffen, sondern noch rund 100 Atombomben des Typs B61 im Rahmen der nuklearen Teilhabe der Nato in Europa stationiert.
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Erstens sind die in Europa stationierten Atomwaffen für den Zusammenhalt der Nato weniger wichtig als gemeinhin angekommen. Gegner eines Abzugs der US-Atomwaffen aus Europa fürchten, dass einseitige Reduzierungen den Zusammenhalt der Allianz schwächen würden.
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Drittens ist der Wert der in Europa stationierten Waffen als Faustpfand in Rüstungskontrollverhandlungen mit Russland offenbar begrenzt. Seit 2010
besteht die Nato darauf, dass nukleare Reduzierungen von Atomwaffen in Europa nur reziprok mit Russland erfolgen können. Der Berliner Koalitionsvertrag schreibt fest, dass „erfolgreiche
Abrüstungsgespräche die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen“ schaffen. Nun ist ein großer Teil der Waffen fort, ohne dass Moskau
eine Gegenleistung bringen musste oder auch nur darum gebeten wurde.
Viertens wird deutlich, dass die in Europa stationierten US-Atomwaffen ein Sicherheitsrisiko sind. Laut Kristensen und Korda haben die USA die meisten, nämlich rund 30 Atomwaffen von der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik abgezogen. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Gerüchte, dass Washington nach dem Putschversuch 2016 alle 50 dort stationierten B61-Atombomben in Sicherheit gebracht habe. Damals hatte Ankara der Nuklearwaffenbasis kurzfristig den Strom abgedreht, die Einrichtung von der Außenwelt abgeriegelt und den türkischen Kommandeur verhaftet. Nun also immerhin ein Teilabzug. Das heißt aber auch, 20 Atomwaffen verbleiben auf der Basis, die rund 120 Kilometer von der Grenze zum syrischen Bürgerkriegsgebiet entfernt ist.
Die Abrüstung zeigt, dass die 100 noch in Europa stationierten US-Atomwaffen Relikte des Kalten Krieges sind. Ihre Bedeutung als rüstungskontrollpolitische Tauschware, politische Symbole der Allianzsolidarität und Instrumente der Abschreckung wird heillos überschätzt. Als Garanten der Einflussnahme auf die Atomwaffenpolitik der USA taugen die Waffen für die Europäer offenbar auch nicht mehr. Für die Nato sind die Atombomben keine Aktivposten, sondern werden zunehmend zum politischen, und militärischen Ballast.
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Die Biden-Administration will die Rolle von Atomwaffen in der US-amerikanischen Sicherheitspolitik reduzieren, US-Generäle gestehen bereitwillig ein, dass die Kernwaffen in Europa keinen militärischen Mehrwert mehr haben. Nach vier Jahren des US-amerikanischen Populismus ist die neue US-Regierung bereit, den Wünschen der Verbündeten einen größeren Stellenwert zu geben.
Die Bundesregierung muss nicht fürchten, allein zu agieren. Nicht nur in Deutschland wackelt die parlamentarische Unterstützung für die Atomwaffenstationierung, auch in Belgien und den Niederlanden gibt es erhebliche Widerstände gegen den Verbleib der Atomwaffen...