Autor: Giorgio Franceschini. Veröffentlicht im ipg-journal (Friedrich Ebert-Stiftung) am 22.02.2016. Titel "Wettrüsten 2.0"
Die USA investieren eine Billion US-Dollar in Nuklearwaffen – andere ziehen nach.
Im Atomwaffensperrvertrag aus dem Jahr 1970 verpflichten sich die Vertragsstaaten „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“
Die gestelzte Sprache zeigt, wie uneins sich Kernwaffenbesitzer und Nichtkernwaffenstaaten bereits vor einem halben Jahrhundert über die Dringlichkeit nuklearer Abrüstung waren. Dennoch band sie das Prinzip Hoffnung aneinander, dass eines Tages die nukleare Sackgasse, in der sich die Staatenwelt verrannt hatte, sicher und unumkehrbar beendet werden könnte. Dieser Hoffnung verschrieben sich jahrzehntelang Friedensbewegte genauso wie Militärs, Länder des Südens und Entscheidungsträger des Nordens wie zuletzt Barack Obama, der in einer aufsehenerregenden Rede in Prag im Jahr 2009 von einer kernwaffenfreien Welt sprach. Doch diese Hoffnung ist gerade dabei, sich für das 21. Jahrhundert zu verabschieden.
Ein kurzer Blick in die Tageszeitungen der letzten Wochen genügt, um dies zu verdeutlichen: Zwischen Brexit und Flüchtlingskrise berät da das britische Parlament über ein Nachfolgemodell seiner nuklear bestückten U-Bootflotte „Trident“ – die Kosten belaufen sich, unabhängigen Experten zufolge, auf 100 Milliarden Pfund. Dem will Londons engster Alliierter jenseits des Atlantiks nicht nachstehen: Washington erwägt, für die nächsten Jahrzehnte eine umfassende Modernisierung der amerikanischen Nukleartriade (luft-, see- und bodengestützte Systeme) für rund eine Billion US-Dollar vorzunehmen.
Washington erwägt, für die nächsten Jahrzehnte eine umfassende Modernisierung der amerikanischen Nukleartriade für rund eine Billion US-Dollar vorzunehmen.
Zur gleichen Zeit erwägen chinesische Strategen, ihr Nukleararsenal in einen Modus rascherer Abschussbereitschaft umzustellen („hair trigger alert“) und träumen von einer eigenen Triade und sogenannten Mehrfachsprengköpfen für ihre Raketenprogramme. Wer asiatische Rüstungsdynamiken kennt, weiß, dass eine indische Antwort nicht lange auf sich warten lassen wird. Und damit ist auch für die weitere pakistanische Aufrüstung gesorgt.
Schließlich reaktiviert der Sowjetnostalgiker Wladimir Putin die gute alte Tradition der Nukleardrohung aus den Zeiten des Kalten Krieges und verweist auf umfassende Modernisierungsprogramme und Neubeschaffungen im russischen Nukleararsenal, mit denen seine Gegner bald zu rechnen hätten.
Die Gründe, warum die Atommächte in diesem Jahrhundert ihren Massenvernichtungswaffen einen zweiten Frühling bescheren, sind dabei so verschieden wie ihre Sicherheitslage und ihre Statusansprüche. Doch in einem Punkt stimmen alle überein: In ihrem Selbstbild eines zurückhaltenden Kernwaffenstaates, der von anderen Atommächten zur nuklearen Nachrüstung gezwungen wird. Keiner sieht sich als treibende Kraft, alle sehen sich als Getriebene.
Dem amerikanischen Aufrüstungsnarrativ kommen dabei der russische Revisionismus und die chinesischen Territorialansprüche im Pazifik sehr gelegen, weil Washingtons militärische Dominanz gegenüber Moskau und Peking eigentlich keine Billion Dollar teure nukleare Modernisierung rechtfertigt. Der Kreml hat sich die NATO-Rhetorik des Kalten Krieges zu eigen gemacht und verweist auf die konventionelle Überlegenheit des Westens, die man nuklear abschrecken müsse. Damit lehnt er sich an frühere Erklärungen der NATO an, man könne den konventionell überlegenen Warschauer Pakt nur nuklear in Schach halten. Pakistan argumentiert ähnlich hinsichtlich der Überlegenheit der indischen konventionellen Streitkräfte. China kokettiert mit seinem Status des atomaren Spätzünders und rechtfertigt seine ehrgeizigen Nuklearambitionen mit dem amerikanischen Dominanzgebaren im pazifischen Raum und dem 20-jährigen Vorsprung Washingtons und Moskaus in der Entwicklung nuklearer Waffen. Und Indien muss als zweite aufsteigende Macht natürlich mit Peking Schritt halten und versucht mit leichter zeitlicher Verzögerung, dieselben militärischen Entwicklungen nachzuvollziehen wie sein asiatischer Konkurrent.
Diese Rechtfertigungsnarrative sind mehr als nur Schall und Rauch, denn die Politikwissenschaft bezeichnet die verengte Sicht auf die Wirklichkeit, die sich dahinter verbirgt, als Sicherheitsdilemma und sieht sie als sicheres Indiz für neue Rüstungswettläufe. Und in der Tat: Wer sich etwa die Rüstungsdynamik im Dreieck Peking-Delhi-Islamabad anschaut, sieht bereits erste Anzeichen eines nuklearen Rüstungswettlaufs in Asien, der im 21. Jahrhundert durchaus dramatische Dimensionen annehmen könnte. Noch sind die asiatischen Sprengkopfzahlen jeweils im unteren dreistelligen Bereich und ihr Wachstum überschaubar. Sollte jedoch China beschließen, den Weg zur nuklearen Parität mit den USA und Russland zu beschleunigen – und dieser Tag wird kommen – dann könnte dies eine Lawine atomarer Nachrüstung in Asien auslösen. Peking, Delhi und Islamabad arbeiten bereits am Ausbau ihrer Produktionskapazität spaltbaren waffenfähigen Materials, während in Genf eine ohnmächtige Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen seit zwei Jahrzehnten erfolglos genau diese Spaltmaterialproduktion zu drosseln versucht. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, dass die größte Opposition gegen einen Vertrag über das Verbot der Herstellung von spaltbarem Material für Waffenzwecke (Fissile Material Cut-off Treaty) aus der Region der nuklearen Nachzügler in Asien kommt.
Wer sich etwa die Rüstungsdynamik im Dreieck Peking-Delhi-Islamabad anschaut, sieht bereits erste Anzeichen eines nuklearen Rüstungswettlaufs in Asien, der im 21. Jahrhundert durchaus dramatische Dimensionen annehmen könnte.
Alles halb so schlimm? Wir haben schließlich unsere bipolare Konfrontation auch unbeschadet überstanden? Es gibt wenige Gründe, diesen nuklearen Optimismus auf die asiatische Realität des 21. Jahrhunderts zu übertragen. Denn abgesehen von der Tatsache, dass wir im Kalten Krieg nach neueren historischen Erkenntnissen mehrmals knapp an einer nuklearen Katastrophe vorbeigeschrammt sind, zeigt der asiatische Fall gleich drei zusätzliche Risikofaktoren, die als Brandbeschleuniger einer nuklearen Katastrophe dienen können: die kürzeren Distanzen zwischen den Kontrahenten und die dadurch geringeren Vorwarnzeichen im Falle einer Konfrontation, die Tür und Tor für Missverständnisse und Kurzschlusshandlungen öffnen; die Präsenz radikaler nichtstaatlicher Akteure, die im pakistanischen Fall bereits den militärischen Geheimdienst infiltriert haben sollen, und eine defizitäre Sicherheitskultur, die sowohl zur unbeabsichtigten Detonation einer Kernwaffe als auch zum unbefugten Zugriff führen könnte.
Gleichwohl hat auch der Westen keinen Grund zur Selbstgefälligkeit, denn er trägt einen Teil der Verantwortung für die Nuklearambitionen der aufsteigenden Mächte in Asien. Erstens haben sich die nuklearen Reduktionen der USA (und Russlands) seit Ende des Kalten Krieges verlangsamt und stagnieren bei jeweils mehreren tausend Sprengköpfen. Da wirken Appelle an China und Indien, deren Sprengkopfzahlen nicht einmal ein Zehntel der amerikanischen oder russischen Arsenale ausmachen, sich beim Ausbau zu mäßigen, wenig überzeugend.
Zweitens haben die USA im Rausch des „unipolaren Moments“ der 1990er Jahre zu oft von einer „full spectrum dominance“ geschwärmt. Diese Forderung nach Überlegenheit in allen Waffengattungen findet sich in zahlreichen Strategiepapieren jener Zeit. Die Nachricht ist inzwischen auch bei Washingtons strategischen Rivalen angekommen, die mit ihrer nuklearen Aufrüstung auch signalisieren, dass sie sich dieser Unterordnung nicht fügen wollen.
Drittens haben die Vereinigten Staaten den Umfassenden Teststoppvertrag (Comprehensive Test Ban Treaty – CTBT) nicht ratifiziert und damit ihren Rivalen in Asien eine Steilvorlage für künftige Atomtests geliefert. Denn im Unterschied zu Washington brauchen Peking, Delhi und Islamabad langfristig für die weitere Diversifizierung ihres Arsenals Atomtests. Sie konnten sich im Windschatten der USA bisher geschickt vor einer Ratifizierung des CTBT drücken. Der indische Nuklearwaffenkomplex drängt bereits auf neue Tests. Ohne ein völkerrechtliches Testverbot wird das Testmoratorium in Südasien nicht mehr lange zu halten sein.
Und schließlich ist da noch der Atomwaffensperrvertrag. Hier reicht das britische Beispiel, um der Selbstbeweihräucherung westlicher Atommächte („wir haben bereits stark reduziert und üben uns in Zurückhaltung“) eine kritische Zeitbetrachtung entgegenzuhalten: Die Beschaffungsphase der neue U-Bootflotte wird noch 15 Jahre dauern und ab Anfang 2030 Großbritannien eine runderneuerte seegestützte nukleare Abschreckung bescheren. Bei guter Wartung werden die U-Boote vier Jahrzehnte in Betrieb sein und gegen 2070 ihre letzten Patrouillen drehen. Dann wird der Atomwaffensperrvertrag genau 100 Jahre alt sein, jener Vertrag, dessen Depositarstaaten Großbritannien, die USA und Russland sind und in dem sie sich verpflichtet haben, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung.“
Von: Giorgio Franceschini, Veröffentlicht am 22.02.2016.Copyright: Friedrich-Ebert-Stiftung, "Internationale Politik und Gesellschaft" (IPG)
Giorgio Franceschini ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) mit dem Arbeitsschwerpunkt Rüstungskontrolle, insbesondere der Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik der Europäischen Union. Der Diplom-Physiker forschte zuvor unter anderem an der Technischen Universität Darmstadt sowie am James Martin Center for Nonproliferation Studies (CNS) in Monterey, Kalifornien.